Strafkolonie in Russland

Politische Gefangene in Russland Einen Auftragsmörder hergeben, um Leben zu retten?

Stand: 21.02.2024 19:37 Uhr

Nawalnys Tod führt vor Augen, wie brutal die russische Führung mit Gegnern umgeht. Der Druck steigt, Gefangene aus russischen Gefängnissen freizubekommen - auch im Austausch für den "Tiergartenmörder"?

"Die Ermordung von Alexej Nawalny bedeutet, dass Wladimir Kara-Mursa das nächste Ziel ist. Die Ähnlichkeiten zwischen Kara-Mursa und Nawalny sind sehr groß", sagt Bill Browder. Der britische Unternehmer steht selbst im Fadenkreuz der russischen Behörden und setzt sich für politische Gefangene wie Kara-Mursa ein.

Browder erläutert: "Nawalny und Kara-Mursa wurden wegen ihrer Oppositionsarbeit gegen Putin vergiftet. Beide wurden zu extrem langen Haftstrafen verurteilt. Beide wurden in sibirische Gefängnisse und in Einzelhaft gesteckt. Sie widersetzten sich Putin weiterhin. Einer von ihnen wurde getötet, der andere steht jetzt auf der Abschussliste. Umso dringlicher ist es, Wladimir Kara-Mursa zu retten. Denn wir konnten Alexej Nawalny nicht retten."

Deshalb hat Browder nun seine Meinung geändert. Bislang hatte er sich dagegen ausgesprochen, den verurteilten "Tiergartenmörder" Wadim Krassikow gegen Gefangene in Russland einzutauschen. Nun sagt er: "Ich würde eher einen Mörder austauschen, als Wladimir zu verlieren."

Lebenslang für den Auftragsmörder

Krassikow hatte am 23. August 2019 in Berlin den tschetschenisch-stämmigen Georgier Selimchan Changoschwili erschossen - ein Mord zur Mittagszeit im belebten Park Kleiner Tiergarten. Ende 2021 wurde er deswegen nach 56 Verhandlungstagen vom Kammergericht in Berlin zu lebenslanger Haft verurteilt. Das Gericht sprach von "Staatsterrorismus".

In juristischen und politischen Kreisen in Berlin hieß es bislang, der rechtmäßig verurteilte Täter solle mindestens zehn Jahre Haft verbüßt haben, bevor er abgeschoben werden dürfe. Krassikow stritt bis zum Schluss alles ab. Er zeigte keinerlei Reue oder auch nur Bedauern - so wie Wladimir Putin, der den Mord bei drei öffentlichen Auftritten wortreich rechtfertigte.

Changoschwilis Bruder Surab kann den Wunsch der Angehörigen verstehen, alles für die Befreiung der Gefangenen in russischen Gefängnissen zu tun. Doch wünscht er sich wenigstens, dass auch die Helfer und Hintermänner des "Tiergartenmordes" gefunden und vor Gericht gestellt werden. Dies und der Umgang der deutschen Behörden mit seiner Familie verbittert ihn. Denn nach Ablehnung ihrer Asylanträge müssen sie täglich mit der Abschiebung nach Georgien rechnen, wo er um sein Leben und das seines ältesten Sohnes fürchtet.

Ein hoher Preis

Kehrt der "Tiergartenmörder" hingegen nach Russland zurück, so wäre ein Triumphzug zu erwarten. Wie für andere im Ausland verurteilte russische Straftäter könnte ihm der Staat den roten Teppich ausrollen, ihm Orden, einen Abgeordnetensitz in der Duma und andere Privilegien zuteil werden lassen.

Putin könnte seinen Gefolgsleuten vermitteln, dass er sie nicht im Stich lässt. Auftragsmörder in Diensten des Staates würden sich motiviert fühlen, Anschläge auf Regimegegner und "Verräter" im Ausland zu begehen - wie es vermutlich gerade in Spanien geschehen ist: Bei Alicante wurde ein ehemaliger russischer Hubschrauberpilot tot aufgefunden, der vergangenes Jahr zu den Ukrainern übergelaufen war.

Er hatte ein halbes Dutzend Kugeln im Körper und war auch noch mit dem Auto überfahren worden, wie die spanische Nachrichtenagentur Efe meldete. Russlands Auslandsgeheimdienstchef Sergej Narischkin hatte ihn einen "Verräter" genannt.

Umfassender Gefangenenaustausch?

Browder sprach sich bislang dafür aus, statt Krassikow andere in Haft sitzende russische Staatsangehörige auszutauschen. So wurde der Waffenhändler Viktor But gegen die US-Basketballerin Brittney Griner ausgetauscht, die wegen Besitzes einer geringen Menge Haschisch-Öls zu neun Jahren Lagerhaft verurteilt worden war.

Browder arbeitet an einer Liste russischer Gefangenen im Ausland. Er möchte nicht ins Detail gehen, nur so viel: "Es sind jetzt etwa 60. Den Russen sind die meisten ihrer Gefangenen egal, aber einige sind ihnen doch wichtig."

Die Sicherheitskonferenz in München nutzte Browder, um mit hochrangigen Politikern darüber zu sprechen: "Ich habe mich mit etwa zehn Außenministern getroffen. Eine Reihe von Ländern wäre offen für einen umfassenden Gefangenenaustausch. Darüber gibt es einen ziemlich breiten Konsens."

Festnahme wegen Cannabis-Gummibärchen

Allerdings könnte sich der Handel mit Gefangenen zu einem Geschäft für Russland und andere Diktaturen auswachsen. Das Auswärtige Amt warnt seit geraumer Zeit deutsche Staatsangehörige und Doppelstaatler bei Reisen nach Russland vor "willkürlichen Festnahmen".

Bereits im Jahr 2021 wurde ein Russlanddeutscher wegen angeblicher Spionage in Russland verhaftet und laut russischen Medienberichten 2023 zu mehr als 13 Jahren Haft verurteilt. Ein neuer Fall kam vor einigen Tagen hinzu: Das Auswärtige Amt bestätigte am 14. Februar die Festnahme eines 38-jährigen Deutschen am Flughafen Pulkowo in St. Petersburg.

Die russische Grenzbehörde beschlagnahmte bei ihm sechs Cannabis-Gummibärchen. Er habe sich mit einer Russin, einer Online-Bekanntschaft, treffen wollen. In einem Video der Behörde ist der Mann mit einem Rucksack zu erkennen, ebenso ein Tütchen mit buntem Aufdruck. Angesichts der strengen Drogengesetze in Russland drohen ihm sieben Jahre Haft.

"Rein spekulativ" nannte ein Sprecher des Auswärtigen Amtes während einer Pressekonferenz Mutmaßungen, wonach es sich um einen ähnlichen Fall wie bei der Basketballerin Griner handeln könnte. Der Mann werde konsularisch betreut, die deutschen Stellen seien mit seinen Anwälten in Kontakt.

Putin fordert Austausch von Krassikow

Im Fall Griner war im Juli 2022 bekannt geworden, dass von russischer Seite ein informeller Kommunikationskanal des Geheimdienstes FSB nach Washington genutzt worden war, um einen Austausch Krassikows zu fordern.

Nun sprach Putin offen davon, dass er den Auftragsmörder zurück haben will: Beim Interview mit dem ultrarechten Ex-Moderator des US-Senders "Fox News" Tucker Carlson nannte er zwar weder den Namen des Mörders noch des Opfers. Doch aus seinen Umschreibungen wurde klar, dass er den seit bald einem Jahr inhaftierten "Wall Street"-Journalisten Evan Gershkovich gegen Krassikow austauschen will.

Unter russischen Journalisten wird mit Verweis auf diverse anonyme Quellen seit Monaten kolportiert, es werde über Krassikow verhandelt, der unter hohen Sicherheitsvorkehrungen in einem deutschen Gefängnis sitzt.

Bundesregierung gibt keine Stellungnahme

Eine Entscheidung läge bei der Bundesregierung. Sie könnte der Bundesanwaltschaft die Anweisung geben, von der weiteren Strafvollstreckung abzusehen. Das ist laut Strafprozessordnung auch bei lebenslangen Haftstrafen möglich. Dann könnte Krassikow nach Russland abgeschoben werden. Ein Regierungssprecher teilte dazu auf Nachfrage von tagesschau.de mit: "Die Bundesregierung hat keinen Kommentar oder Stellungnahme in der Sache."

Der Tod Nawalnys erhöht nun den Druck, für Gershkovich, Kara-Mursa und viele weitere Gefangene tätig zu werden. Erfolgreiche Verhandlungen in der Vergangenheit waren allerdings dadurch gekennzeichnet, dass sie hinter verschlossenen Türen stattfanden und bis zum Tag des Austauschs nichts nach außen drang.