Marco Buschmann und Lisa Paus

Vorhaben der Ampelkoalition Für Familien dauert's länger

Stand: 11.08.2023 11:02 Uhr

Die "Fortschrittskoalition" hat sich vor allem gesellschaftlichen Fortschritt vorgenommen: einen neuen Familienbegriff, ein liberales Abtreibungsrecht und geschlechtliche Selbstbestimmung. Warum dauert das so lange?

Als sich SPD, Grüne und FDP im Dezember 2021 auf einen Koalitionsvertrag geeinigt hatten, wollten sie - so der Titel des Dokuments - "mehr Fortschritt wagen". Dass die selbst ernannte "Fortschrittskoalition" vor allem bei gesellschaftspolitischen Themen zusammenkommen würde, schien selbstverständlich: Da ist von "Verantwortungsgemeinschaften" als Alternative zur Ehe die Rede, von der Abschaffung des "Werbeverbots" für Schwangerschaftsabbrüche, von besseren Chancen für Kinder und von einem Selbstbestimmungsgesetz.

Anderthalb Jahre später sieht vieles in Deutschland anders aus: Mit Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine rückten andere Bereiche in den Vordergrund. Die Ministerinnen und Minister mussten über die Ausstattung der Bundeswehr nachdenken, über eine sichere Energieversorgung für Deutschland und über die Aufnahme von Flüchtenden aus der Ukraine. Für Familien- und Gesellschaftspolitik blieb da wenig Platz.

Doch wie steht es jetzt um die Projekte der Koalition, bei denen sich die drei Partner anfangs anscheinend so mühelos auf einen Fortschritt einigen konnten? Viele Gesetze befinden sich noch in der Abstimmung - bei einigen ist unklar, wann sie umgesetzt werden sollen. Ein Überblick über den aktuellen Stand bei Kindergrundsicherung, Elterngeld, Familienstartzeit, Verantwortungsgemeinschaften, Schwangerschaftsabbrüchen und Selbstbestimmungsgesetz:

Kindergrundsicherung

Die Kindergrundsicherung ist nach Ansicht des grün-geführten Familienministeriums "das wichtigste sozialpolitische Projekt dieser Koalition". Im Koalitionsvertrag heißt es, die Kindergrundsicherung solle aus zwei Teilen bestehen: einem einkommensunabhängigen Garantiebetrag für alle Kinder und Jugendlichen und einem vom Einkommen der Eltern abhängigen, gestaffelten Zusatzbetrag. Nach den Plänen des Ministeriums soll die Kindergrundsicherung 2025 erstmals ausgezahlt werden.

Die Eckpunkte zur Kindergrundsicherung hat Familienministerin Lisa Paus bereits im Januar vorgelegt, bislang liegt aber noch kein Gesetzentwurf vor. Streit gibt es vor allem bei der Finanzierung - die Grünen-Politikerin hatte ursprünglich zwölf Milliarden Euro für die Kindergrundsicherung veranschlagt, im Haushalt sind jedoch nur zwei Milliarden Euro vorgesehen.

Paus, die das Familienministerium im April 2022 nach dem Rücktritt von Anne Spiegel übernommen hatte, sagte schließlich in den tagesthemen, die jährliche Summe werde sich zwischen zwei und zwölf Milliarden Euro bewegen. Die Ministerin zeigte sich Anfang Juli optimistisch, dass das Kabinett den Gesetzentwurf Ende August beschließt - wie es zuvor auch schon Bundeskanzler Olaf Scholz in einem Brief an das Familienministerium gefordert hatte.

Familienministerin Lisa Paus, Die Grünen, zum Streit über die Kindergrundsicherung in der Ampel-Koalition

tagesthemen, 03.07.2023 21:55 Uhr

"Die tatsächlichen Kosten der Kindergrundsicherung, die wir im Gesetzesentwurf zu Grunde legen, können erst abschließend genannt werden, wenn die letzten inhaltlichen Fragen geklärt sind", teilte eine Sprecherin des Familienministeriums auf Anfrage von tagesschau.de mit. "Diese Verhandlungen führen wir aktuell mit Hochdruck."

Die zwei Milliarden Euro im Haushalt betrachtet das Familienministerium als "Merkposten". Es sei definitiv weniger als die Summe, die 2025 zur Verfügung stehen werde, heißt es aus dem Ministerium. Auch Bundeskanzler Scholz habe mit seinem Brief eine feste Zusage gegeben, dass die Kindergrundsicherung qualitativ mehr sein werde als eine Digitalisierungs- und Verwaltungsreform. Für Familien mit armutsbedrohten Kindern soll es zu echten Leistungsverbesserungen kommen.

Bei der Umsetzung der Kindergrundsicherung soll dem Koalitionsvertrag zufolge auch das Existenzminimum für Kinder neu berechnet werden. "Seit gut 15 Jahren hat sich nichts verändert. Der Bedarf ist also groß", erklärte die Ministeriumssprecherin dazu. Über die Details der Neuberechnung werde aber noch verhandelt.

Elterngeld und Familienstartzeit

Das Elterngeld gibt es seit 2007. Es habe seit seiner Einführung soziale Normen verändert und einen gesellschaftlichen Wandel befördert, heißt es in einem Factsheet aus dem Familienministerium. Heute sei es für viele Mütter selbstverständlich, ihre Berufstätigkeit nur noch für einen kürzeren Zeitraum zu unterbrechen. "Besonders Mütter, deren Partner mehr als zwei Monate Elternzeit nehmen, stehen dem Arbeitsmarkt schneller wieder zur Verfügung", so das Ministerium. "Das Elterngeld macht es auch für Väter leichter, wegen der Geburt eines Kindes beruflich kürzer zu treten, da sie sich heute stärker akzeptiert fühlen."

Im Koalitionsvertrag hatten sich SPD, Grüne und FDP darauf geeinigt, das Elterngeld zu vereinfachen, zu digitalisieren und die "gemeinschaftliche elterliche Verantwortung" zu stärken. Als Ziele nannte die Koalition, dass die Partnermonate beim Basis-Elterngeld um einen Monat verlängert werden, es einen Anspruch für Pflegeeltern gibt und der für Selbstständige modernisiert wird.

"Wir werden eine zweiwöchige vergütete Freistellung für die Partnerin oder den Partner nach der Geburt eines Kindes einführen", kündigte die Ampelkoalition zudem an. Für diese sogenannte Familienstartzeit hat Ministerin Paus Ende März einen Gesetzentwurf vorgelegt. Der Entwurf befindet sich nach Angaben des Familienministeriums noch in der Ressortabstimmung.

Nachdem das Finanzministerium dem Familienressort eine "ausgabenreduzierende Reform des Elterngeldes" auferlegt hatte, um so eine halbe Milliarde Euro einzusparen, kündigte Ministerin Paus an, den Anspruch für Besserverdienende zu streichen. Konkret soll eine Einkommensgrenze für Paare mit einem zu versteuerndem Einkommen von mehr als 150.000 Euro gelten, und zwar für Geburten ab dem 1. Januar 2024. Allerdings hängt die konkrete Einführung auch vom parlamentarischen Verfahren ab - es kann sich also noch einiges an den Plänen ändern.

Die Einkommensgrenze sei "von den schlechtesten Lösungen die möglichst wenig schlechte", sagte Paus gegenüber RTL/NTV. Das Elterngeld spiele für gut verdienende Eltern bei der Elternzeit eine weitaus geringere Rolle als für Mütter und Väter mit kleineren oder mittleren Einkommen, heißt es aus dem Familienministerium. Gut verdienende Väter nähmen zudem viel seltener als der Durchschnitt Elternzeit.

Verantwortungsgemeinschaften

SPD, Grüne und FDP haben sich auch darauf geeinigt, das Familienrecht zu modernisieren - und auch den Begriff der Familie zu erweitern. "Wir werden das Institut der Verantwortungsgemeinschaft einführen und damit jenseits von Liebesbeziehungen oder der Ehe zwei oder mehr volljährigen Personen ermöglichen, rechtlich füreinander Verantwortung zu übernehmen", heißt es dazu im Koalitionsvertrag.

Anfang 2022 hatte Justizminister Marco Buschmann der Zeitung "Welt" gesagt, die Verantwortungsgemeinschaften würden frühestens Ende 2023 kommen, weil umfangreiche Vorarbeiten für den Gesetzentwurf notwendig seien. Nun kündigte der FDP-Politiker in den Zeitungen der Funke-Mediengruppe an, nach der Sommerpause Eckpunkte vorlegen zu wollen. Der entsprechende Gesetzentwurf solle im kommenden Jahr in den Bundestag eingebracht werden. Das Ministerium arbeite derzeit an der Umsetzung und stehe dazu im Austausch mit anderen Ressorts, teilte ein Sprecher des Ministeriums auf Anfrage von tagesschau.de mit.

"Übernahme von Verantwortung gibt es heute auch jenseits von Familie und romantischen Partnerschaften", sagte Buschmann den Zeitungen der Funke-Mediengruppe. Als Beispiele nannte er zusammenlebende ältere Menschen, die ihre Lebenspartner verloren haben, und junge Menschen in Wohnprojekten. "Doch was passiert, wenn einer von ihnen ins Krankenhaus muss und der andere Auskunft über den Zustand haben möchte? Oder was für Rechte haben die Beteiligten in Bezug auf eine gemeinsame Mietwohnung?" Diese Fragen seien bislang auf traditionelle Familienbeziehungen zugeschnitten. "Das muss sich ändern, wenn die Beteiligten sich das wünschen."

Schwangerschaftsabbrüche

Im Juni 2022 hat der Bundestag dafür gestimmt, Paragraf 219a aus dem Strafgesetzbuch (StGB) zu streichen. Der Strafrechtsparagraf hatte zuvor die "Werbung für den Abbruch der Schwangerschaft" verboten - darunter fielen jedoch auch Informationsangebote von Ärztinnen und Ärzten, die Schwangerschaftsabbrüche durchführen. So wurde unter anderem die Gießener Ärztin Kristina Hänel 2017 verurteilt, weil sie im Internet über den Eingriff informierte.

Streit gibt es nach wie vor über Paragraf 218 StGB, der einen Schwangerschaftsabbruch mit einer Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren oder einer Geldstrafe belegt. Zwar gibt es mit Paragraf 218a seit 1992 Bedingungen, in denen die Strafen ausgesetzt werden: Der Abbruch muss in den ersten zwölf Wochen der Schwangerschaft erfolgen, die Schwangere muss sich drei Tage vor dem Eingriff beraten lassen und der Abbruch muss von einem Arzt oder einer Ärztin durchgeführt werden. Doch damit werden Schwangerschaftsabbrüche nach wie vor kriminalisiert.

Ministerin Paus äußerte sich dazu klar: Sie will Paragraf 218 StGB ebenfalls abschaffen. Doch dazu gibt es bisher keine Einigung in der Ampelkoalition.

Die Bundesregierung hat deshalb - wie auch im Koalitionsvertrag vorgesehen - Ende März eine Kommission zur reproduktiven Selbstbestimmung und Fortpflanzungsmedizin berufen. Die Kommission soll in einer von zwei Arbeitsgruppen prüfen, wie der Schwangerschaftsabbruch außerhalb des Strafgesetzbuches reguliert werden könnte. Sie soll ihre Arbeit bis März 2024 zu Ende bringen, teilte das Familienministerium auf Anfrage mit.

Das Familienministerium arbeitet außerdem daran, gesetzlich gegen die sogenannte Gehsteigbelästigung vor Schwangerschaftsberatungsstellen und medizinischen Einrichtungen vorzugehen. "Zum Recht auf reproduktive Selbstbestimmung muss auch gehören, dass Frauen in einem Schwangerschaftskonflikt ungehindert Zugang zu Beratung und Praxis haben", heißt es dazu aus dem Ministerium.

Selbstbestimmungsgesetz

Als einen weiteren gesellschaftspolitischen Schritt nahm sich die Ampelkoalition im Koalitionsvertrag vor, das aktuell geltende Transsexuellengesetz abzuschaffen und durch ein Selbstbestimmungsgesetz zu ersetzen. Der Geschlechtseintrag im Personenstand soll damit per Selbstauskunft geändert werden können, Aufklärungs- und Beratungsangebote sollen gestärkt werden.

Einen Entwurf für das neue Selbstbestimmungsgesetz gibt es bereits, das Bundeskabinett hat ihn aber noch nicht beschlossen. Aus dem Innenministerium habe es eine Reihe von melderechtlichen Bedenken gegeben, sagte Justizminister Buschmann dem Nachrichtendienst LTO Mitte Juli. "Man befürchtet dort, Straftäter könnten ihren Geschlechtseintrag ändern, um die eigene Identität etwa vor Strafverfolgungsbehörden zu verschleiern", so Buschmann. Diese Sorge entkräfte er aber, da er das Anliegen teile. "Meine Hoffnung ist, dass der Entwurf zum Ende der Sommerpause ins Kabinett kommt", sagte der FDP-Politiker.

Der Bundestag solle endlich über das Gesetz beraten können, sagte Buschmann der "Rheinischen Post": "Denn das Vorhaben ist und bleibt richtig: Wir müssen die entwürdigende Behandlung von transgeschlechtlichen Personen beenden." Er rechne damit, dass die Debatte lebhaft werde. "Aber wir werden im Parlament nochmals klarstellen: Das Selbstbestimmungsgesetz ist ein Vorhaben ganz im Geist unserer Verfassung. Und es wird sich viel weniger ändern, als viele meinen." Vertragsfreiheit und Hausrecht blieben gewahrt. "Wir haben größten Wert darauf gelegt, alle Möglichkeiten des Missbrauchs - und seien sie noch so fernliegend - auszuschließen", so Buschmann.

Gesellschaftlicher Fortschritt muss warten

Fazit: An vielen Stellen in der Familien- und Gesellschaftspolitik, bei denen es zum Start der Ampelkoalition nach Einigkeit aussah, gibt es doch noch viel Gesprächsbedarf. Gesetzesvorhaben, die schon vor dem Sommer kommen sollten, sind noch in der Ressortabstimmung, einige verzögern sich bis zum kommenden Jahr. Noch ist nicht ganz Halbzeit für die Koalition, andere Themen sind zwischenzeitlich in den Vordergrund gerückt. Es bleibt also noch Zeit, um die Vorhaben umzusetzen. Doch der gesellschaftliche Fortschritt, der so groß angekündigt wurde, lässt auf sich warten.

Eva Ellermann, ARD Berlin, tagesschau, 11.08.2023 11:45 Uhr