Thomas Haldenwang und Nancy Faeser

Verfassungsschutzbericht 2022 Die Gewaltbereitschaft bei Rechtsextremen steigt

Stand: 20.06.2023 16:52 Uhr

Der neue Verfassungsschutzbericht zeigt: Die Gewaltbereitschaft steigt - vor allem bei Rechtsextremen und "Reichsbürgern". Auch Cyberattacken und Spionage bereiten den Verfassungsschützern Sorgen.

Von Bianca Schwarz, ARD Berlin

Für Verfassungsschutzpräsident Thomas Haldenwang ist die Vorstellung eines neuen Verfassungsschutzberichtes ein Routine-Termin. Es bereitet ihm sichtbar keine Freude, verkünden zu müssen, dass Straftaten mit extremistischem Hintergrund 2022 einen Höchststand erreicht haben. Nur diese fließen in den Verfassungsschutzbericht mit ein - weswegen die Straftaten der "Letzten Generation" beispielsweise zwar in der Kriminalitätsstatistik auftauchen, aber nicht im Verfassungsschutzbericht.

Haldenwang und seine Behörde halten die "Letzte Generation" weder für extremistisch noch für gegen den Staat gerichtet. Echte Sorgen macht den Verfassungsschützern die steigende Gewaltbereitschaft in anderen Bereichen.

Gewalt von rechts

Rund 38.800 Personen sieht das Bundesamt für Verfassungsschutz als rechtsextrem an, 14.000 von ihnen stuft es als gewaltbereit ein. Auf ihr Konto gehen 1016 Gewalttaten mit rechtsextremistischem Hintergrund, darunter zwei versuchte Tötungsdelikte - das ist im Vergleich zu 2021 ein Anstieg um etwa 7,5 Prozent. Bundesinnenministerin Nancy Faeser macht sich große Sorgen, weil Angriffe auf geflüchtete Menschen zugenommen haben. "Es ist in höchstem Maße menschenverachtend, Menschen zu attackieren, die bei uns Schutz vor Krieg und Terror gefunden haben."

Durch den Wegfall der Corona-Maßnahmen haben auch rechtsextremistische Konzerte oder Kampfsporttreffen wieder öfter stattgefunden. Die Szene nutzt solche Veranstaltungen, um sich zu vernetzen. Dieselbe Rolle spielen rechtsextremistische Parteien wie die NPD, der "Der Dritte Weg", "Die Rechte" oder "Freie Sachsen".

AfD und Junge Alternative

Nach eigener Aussage hatte die AfD im vergangenen Sommer rund 28.500 Mitglieder. Weil diese aber aus sehr unterschiedlichen Gründen in die Partei eingetreten seien, könne man nicht automatisch alle AfD-Mitglieder als rechtsextremistisch ansehen, heißt es im Verfassungsschutzbericht. Dennoch schätzt das Bundesamt für Verfassungsschutz, dass 10.200 Mitglieder der AfD und ihrer Parteijugend "Junge Alternative" rechtsextremen Strömungen zuzurechnen sind.

Für die Schätzung des rechtextremen Potentials hat die Behörde auch auf parteiinterne Aussagen von Funktionären zum formal aufgelösten, rechtsextremen "Flügel" der AfD zurückgegriffen. Verfassungsschutz-Präsident Haldenwang sagt dazu: "Wir haben diese Einschätzungen führender AfD-Funktionäre sehr vorsichtig zugrunde gelegt. Durchaus noch mal Abzüge gemacht. Aber so kommt man eben auf diese Ergebnisse."

Insgesamt sieht der Verfassungsschutz in der AfD "hinreichend große Bestrebungen, die sich gegen die freiheitliche Grundordnung richten". Außerdem sei zu beobachten, "dass Teile der AfD sehr stark von Moskau beeinflusst sind und russische Narrative verbreiten".

Reichsbürger und Selbstverwalter

Auch innerhalb der "Reichsbürger"- und "Selbstverwalter"-Szene sind Verschwörungstheorien und Russland-Propaganda sehr beliebt. Außerdem wurden 47 Straftaten als antisemitisch eingeordnet. Generell ist die Szene der "Reichsbürger" und "Selbstverwalter" erneut gewachsen: Insgesamt geht es um rund 23.000 Personen. 1250 von ihnen werden als rechtsextremistisch eingestuft, 2300 als gewaltbereit.

Verfassungsschutzbericht 2022: Anzahl rechtsextremistischer Straftaten und Delikte von "Reichsbürgern" stark zugenommen

Frank Jahn, ARD Berlin, tagesschau, 20.06.2023 20:00 Uhr

Die hohe Gewaltbereitschaft und die hohe Affinität zu Waffen machen den Behörden Sorgen. Insgesamt haben "Reichsbürger" und "Selbstverwalter" 1856 politisch motivierte Straftaten verübt, darunter 286 Gewalttaten, wozu neben Erpressungsversuchen auch zwei versuchte Tötungsdelikte zählen.

Zwar konnten Anschläge auf das Stromnetz oder die Entführung von Gesundheitsminister Karl Lauterbach durch Fahndungserfolge in beiden Szenen verhindert werden. Jedoch zeigen diese Bestrebungen eindeutig, wie gezielt "Reichsbürger" und "Selbstverwalter" den Staat stürzen wollen.

Der Verfassungsschutzbericht geht auch darauf ein, warum oft nicht trennscharf zwischen "Reichsbürgern" und "Selbstverwaltern" unterschieden werden kann. "Reichsbürger" würden die Bundesrepublik Deutschland unter Berufung auf ein wie auch immer geartetes "Deutsches Reich" ablehnen. "Selbstverwalter" dagegen fühlen sich dem Staat einfach nicht zugehörig und glauben, sie könnten durch eine Erklärung aus dem Staat austreten.

Spionage und Cyberattacken

Spione in der echten Welt, Cyberattacken und gezielte Desinformationskampagnen in der virtuellen Welt - seit dem Beginn des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine haben all diese Phänomene zugenommen. Künftig müsse man zunehmend auch mit Sabotage und "aggressiven Spionageoperationen Russlands" rechnen, befürchtet Verfassungsschutzpräsident Haldenwang: "Russische Dienste schrecken in der äußersten Konsequenz auch nicht von der Tötung von Personen zurück. Diese sehr robuste Art des Vorgehens sehen wir bei Chinesen nicht."

Deutschland mit seiner Rolle in EU, NATO und anderen internationalen Organisationen sei Ziel vielfältiger politischer Spionage, heißt es im Verfassungsschutzbericht weiter. Neben Russland und China würden auch der Iran und die Türkei in Deutschland spionieren.

Die Ziele der Cyberattacken seien oftmals in Politik und Verwaltung, Wirtschaft und Wissenschaft, Technik und Militär zu finden, heißt es im Verfassungsschutzbericht. Gerade China mit seiner ambitionierten Wirtschaftspolitik nutze Spionage in Industrie und Wissenschaft.

Im Bereich linker Gewalt gehen die Zahlen im neuen Verfassungsschutzbericht zwar einerseits deutlich zurück. Dennoch zeigten "einzelne Angriffe, zahlreiche Körperverletzungen und die regelmäßig verursachten hohen Schadenssummen durch Brandstiftungen oder Sachbeschädigungen das unverändert hohe Gefährdungspotential", so Faeser.

Insgesamt gab es im letzten Jahr 3847 linksextremistische Straftaten, darunter 602 Gewalttaten. Das ist ein Rückgang von 37,4 Prozent bei den Straftaten und von 39 Prozent bei den Gewalttaten. Die Zahl der Angriffe auf Polizisten von links ist etwa um die Hälfte zurückgegangen, die Zahl der Angriffe auf Rechtsextremisten ging um ungefähr 13 Prozent zurück.

Andererseits ist die Zahl der Linksextremisten stark angestiegen: 36.500 Personen werden zu der Szene gerechnet, das ist ein Anstieg von 5,2 Prozent. Rund 10.000 Personen gelten als gewaltbereit.  

Islamismus

Die Zahl islamistisch motivierter Straftaten stagniert zwar, allerdings auf hohem Niveau. Deswegen gibt es keine Entwarnung, im Gegenteil. Innenministerin Faeser schätzt die Gefahr durch islamistischen Terror nach wie vor als hoch ein. Innerhalb eines Jahres konnten drei Anschläge verhindert werden, unter anderem in Hamburg und Castrop-Rauxel, sagte Faeser. Dies zeige, dass es im Bereich Islamismus keine Entwarnung geben könne.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete die tagesschau am 20. Juni 2023 um 17:00 Uhr.