Gyde Jensen im Bundestag
interview

FDP-Abgeordnete Jensen "Frauen werden härter angegangen"

Stand: 18.07.2021 09:16 Uhr

In der Politik herrscht ein männliches Verständnis von Macht vor - und über Fehler redet man nicht: Die jüngste Abgeordnete, Gyde Jensen, über ihre ersten vier Jahre im Bundestag, Baerbock und einen gelöschten Tweet.

tagesschau.de: Vor vier Jahren sind Sie als jüngste Abgeordnete in den Bundestag eingezogen. Wie ernüchtert sind Sie heute?

Gyde Jensen: Ernüchtert bin ich eigentlich gar nicht. Ich war eher positiv überrascht, wie viele Möglichkeiten ich als neue Abgeordnete hier habe. Ich weiß das auch sehr zu schätzen, dass ich für einen gewissen Zeitraum diese Arbeit machen darf. Überrascht bin ich, wie langsam hier oftmals die Mühlen mahlen. Das ist Menschen außerhalb des Kosmos Bundestag nur schwer zu erklären.

tagesschau.de: Konkret?

Jensen: Beispiel Corona. Die Möglichkeiten, im Bundestag digital tagen zu können, sind begrenzt - aus Sicherheitsgründen, aus Datenschutzgründen, aber auch aus Anwendergründen. Das hat das Arbeiten im Parlament erschwert. Dabei erwarte ich schon vom Bundestag hier mit gutem Beispiel voran zu gehen. Jedes Unternehmen musste das schließlich auch schaffen.

Die FDP-Abgeordnete Gyde Jensen
Zur Person

Die FDP-Politikerin Gyde Jensen zog 2017 mit 28 Jahren als jüngste Abgeordnete in den Deutschen Bundestag ein und leitete dort als jüngste Vorsitzende in der Geschichte des Parlaments den Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe. Seit September 2019 ist sie Mutter einer Tochter. Auf Listenplatz 2 der schleswig-holsteinischen FDP hinter Bundes-Vize Wolfgang Kubicki hat Jensen gute Chancen im Herbst erneut in den Bundestag gewählt zu werden.

tagesschau.de: Erinnern Sie sich noch an Ihren ersten Tag im Bundestag?

Jensen: Die FDP war ja in einer besonderen Situation, weil wir keine Vorgänger-Fraktion hatten. Wir waren ja alle neu. Es gab keine Fraktionsräume, keine Mitarbeiter, keine Büros. Die erste Fraktionssitzung fand in einem provisorischen Sitzungssaal statt. Alle brachten ganz unterschiedliche Erfahrungen mit, daraus haben wir Schwarmwissen generiert. Und es gab ein Bootcamp, um sich auzutauschen und die Basics für den Bundestag zu lernen. Das lief alles parallel zu den Sondierungsgesprächen.

tagesschau.de: Wie enttäuscht waren Sie, als das mit dem Regieren dann doch nicht klappte?

Jensen: Schon ein bisschen. Ich hatte erwartet, dass "Jamaika" klappt - so wie ja auch in Schleswig-Holstein. Aber ein Verhandlungserfolg hängt eben an ganz vielen Dingen. Nicht nur an Inhalten, sondern auch an Menschen, die miteinander können. Und so war es eine harte Entscheidung - aber am Ende wohl richtig.

"Klar, wir müssen mehr Frauen sein"

tagesschau.de: Was haben Sie als Abgeordnete konkret bewirkt in dieser Wahlperiode?

Jensen: Als Vorsitzende des Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe konnte ich das außenpolitische Profil der FDP schärfen. Insbesondere der Umgang mit der Volksrepublik China ist ein Thema, das uns sehr beschäftigt hat. Die Bundesregierung hat auf unseren Druck hin ihre Haltung verändert und ist nicht länger sprachlos was die Unterdrückung der Uiguren und auch die Geschehnisse in Hongkong angeht.

tagesschau.de: Und woran sind Sie gescheitert? Stichwort: Machtstrukturen, alte Männer ...

Jensen: Klar, wir müssen mehr Frauen im Parlament sein - aber das würde ich jetzt noch nicht als Scheitern betrachten. Konkret gescheitert bin ich mit meinem Vorhaben einer Reise mit dem Ausschuss in die chinesische Provinz Xinjiang. Wir waren nicht bereit, auf Kritik zu verzichten. Mein Eindruck war, dass das für die chinesischen Behörden bei der Nichterteilung der Reiseerlaubnis eine Rolle gespielt hat.

Gyde Jensen im Bundestag

"Nicht jeder Fehler muss gleich zum Rücktritt führen": Gyde Jensen über die Nicht-Fehlerkultur in der Politik.

tagesschau.de: Im Moment wird ja viel über Fehler gesprochen, etwa bei den Grünen und ihrer Kanzlerkandidatin. Als Merkel die "Osterruhe" als politischen Fehler eingestand, war die Aufregung riesig. Warum werden in der Politik so selten Fehler eingeräumt?

Jensen: Vielleicht weil dann immer schnell nach Konsequenzen gerufen wird. Dabei muss nicht jeder Fehler gleich zum Rücktritt führen. Vielmehr geht es doch darum, logisch zu erklären, warum eine Entscheidung wie getroffen wurde. Aber offensichtlich herrscht das Verständnis in der Politik vor, dass es sich nicht gehört, Fehler zu machen. Deswegen redet man nicht drüber. Ich halte das für einen großen Fehler. Es zeichnet ein falsches Bild von Politik.

tagesschau.de: Die FDP hat im Fall Kemmerich in Thüringen Fehler gemacht und dies rückblickend auch eingestanden. Sie selbst haben Kemmerich kurz nach seiner Wahl mit dem Stimmen der AfD zum Ministerpräsidenten in einem Tweet beglückwünscht. Ein Fehler?

Jensen: Auf jeden Fall. Es ist der bisher einzige Tweet, den ich wieder gelöscht habe. Und zwar nicht, weil ein berechtigter Shitstorm begann, sondern weil der Tweet falsch war. Ich hatte die Lage überhaupt nicht überblickt und war vorschnell. Mich beschäftigt das immer noch ab und zu, weil ich mich frage, wie mir das passieren konnte. Das geht ja den allermeisten Menschen so, wenn sie Fehler machen, für die sie sich schämen. Und deshalb, Stichwort Fehlerkultur: Wenn man dann Fehler einräumt, muss es irgendwann auch gut sein. Nachtreten ist dann nicht nötig.

tagesschau.de: Ist dieser Wahlkampf besonders rau?

Jensen: Ich finde nicht. Er ist momentan einseitig, zulasten der Grünen. Sicher hat das auch etwas damit zu tun, dass Annalena Baerbock eine Frau ist. Manche Kritik an ihr ist auch berechtigt, doch die persönlichen Anfeindungen sind einfach nicht okay. Ich beteilige mich auch nicht daran, wie sich überhaupt nur wenige Frauen daran beteiligen. Denn genau so etwas ist es doch, was Frauen abschreckt, ein öffentliches Amt anzustreben. Das macht einfach keine Lust auf Politik. Männer mögen da schmerzbefreiter sein. Wir verlieren dadurch spannende Köpfe. Und es ist so kurzfristig gedacht: Aus Angst vor einer möglichen Wahlschlappe wird der politische Gegner persönlich diffamiert.

tagesschau.de: Werden Politikerinnen anders angegangen als Männer?

Jensen: Ja, Frauen werden im digitalen Raum viel härter angegangen als Männer, oft auch unter die Gürtellinie. Und im Bundestag gibt es mehr Unruhe, wenn Frauen am Rednerpult stehen. Die FDP-Fraktion muss ja neben der AfD sitzen - und da gibt es abfällige Kommentare über Frauen, wenn Frauen sprechen.

tagesschau.de: Ihre eigene Partei, die FDP, gilt als Junge-Männer-Partei. Warum eigentlich?

Jensen: Politik hat immer auch mit Personen zu tun. Ganz häufig fällt der Name Christian Lindner. Er ist für viele männliche Neumitglieder in einer Vorbildfunktion. Wir haben viele tolle Frauen in der FDP, aber keine, die diese Aufmerksamkeit so auf sich vereint. Ich warne auch davor, immer nur die Frauen in der FDP zu fragen, warum es nur so wenige Frauen in der FDP gibt.

tagesschau.de: Was müsste sich denn konkret verändern?

Jensen: Der Prozess läuft ja. Auch wenn ich mir manchmal wünsche, es würde schneller gehen. Wir haben einen neuen Bundesvorstand, dem rund 40 Prozent Frauen angehören. Die Partei ist mehr als nur der Vorsitzende, die Stellvertreter und den Generalsekretär. Und es gibt ja auch Frauen - auch in der FDP - die wollen gar nicht mehr Verantwortung übernehmen. Männer gehen häufig in die Politik, um etwas zu werden. Bei Frauen sind die Gründe für den Einstieg in die Politik oftmals vielschichtiger. Ich glaube, viele wollen einfach konkret etwas verändern, inhaltlich - und das geht auch aus der zweiten Reihe, manchmal sogar besser.

tagesschau.de: Frauen wollen keine Macht? Ohne Macht lässt sich in der Politik aber kaum etwas bewirken.

Jensen: Wir sind in der Politik immer noch viel zu sehr in alten Rollenbildern verhaftet - und dazu gehört ein eher männliches Verständnis von Macht. Manches können wir aber von ihnen lernen: Männer sind die besseren Netzwerker, Frauen eher die Einzelkämpferinnen, die weniger gut zusammenstehen. Dabei gibt es nicht die eine weibliche Art, Politik zu machen. Selbstverständlich will ich etwas bewirken. Aber vielleicht gehe ich anders damit um, als das Gros meiner männlichen Kollegen.

Volker Wissing, Christian Lindner und Wolfgang Kubicki beim Bundesparteitag der FDP.

Männerpartei FDP? Zumindest in der ersten Reihe finden sich in der Partei keine Frauen.

tagesschau.de: Werden Sie doch konkret. Die FDP könnte ja durchaus nach der Bundestagswahl an der Regierung beteiligt sein. Sie haben doch Lust zu Regieren, oder?

Jensen: Auf jeden Fall. Ich würde sehr gern Verantwortung übernehmen. Nach vier Jahren des intensiven Lernens habe ich Lust, diese Ideen in die Tat umzusetzen, vor allem im außenpolitischen Bereich.

Keine Mehrheit für Frauenquote

tagesschau.de: Wie lässt sich der Anteil von Frauen in der Politik erhöhen? Braucht es doch eine Quote?

Jensen: Für den Bundestag halte ich eine Frauenquote für verfassungsrechtlich schwierig. Trotzdem müssen wir uns mit diesem Thema politisch dringend auseinandersetzen. Alles andere wäre Realitätsverweigerung. Und in den Parteien findet diese Debatte ja auch statt.

tagesschau.de: In der FDP müssen Sie da aber noch dicke Bretter bohren ...

Jensen: Das stimmt. Das schreckt mich aber nicht ab. Es gibt momentan keine Mehrheit in der Partei für eine Frauenquote. Das respektiere ich auch. Aber solche Positionen sind nicht in Stein gemeißelt.

tagesschau.de: Nicht nur Frauen sind unterrepräsentiert im Bundestag. Auch Menschen mit Migrationshintergrund oder Nicht-Akademiker sind dort kaum vertreten. Von einem "Querschnitt der Gesellschaft" kann also kaum die Rede sein. Wieviel Lebenswirklichkeit bildet das Parlament ab?

Jensen: Ein Stück weit ist Berlin, ist der Bundestag sicherlich eine Blase. Doch ich muss als junge Abgeordnete auch in der Lage sein, meine 95-jährige Uroma zu repräsentieren. Vielleicht gelingt das nicht so gut wie bei anderen Frauen in meinem Alter und in einer ähnlichen familiären Situation. Aber es ist nicht so, dass Frauen nur Frauen gut repräsentieren und Männer nur Männer. Wichtig ist, dass wir mehr Menschen mit ganz unterschiedlichen Lebenserfahrungen animieren müssen, sich in Parteien zu engagieren. Dabei konkurriert die Politik um das kostbare Gut Zeit mit vielen anderen und womöglich attraktiveren Angeboten. Wir tragen da als aktive Politikerinnen und Politiker auch eine Verantwortung, kein abschreckendes Bild von Politik zu senden.

Das Gespräch führten Wenke Börnsen und Dietmar Telser, tagesschau.de