Spaziergänger mit Maske in Berlin
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Corona-Mythen Starkes Immunsystem genügt nicht

Stand: 19.02.2021 07:13 Uhr

In der Anthroposophen-Szene wird immer wieder behauptet, dass ein gesundes Immunsystem vor einer Covid-19-Erkrankung schütze. Solche Behauptungen sind jedoch nicht belegt.

Von Katharina Schiele, NDR

"Wenn wir ein gutes Immunsystem haben, dann kann uns das Virus überhaupt nichts ausmachen", predigte Dr. Christoph Hueck bei einer Querdenken-Demo in Stuttgart. Der Anthroposoph bildet beruflich Waldorflehrer aus. Nicht nur an Waldorfschulen ist dies ein weit verbreitetes Argument. Auch im Netz stößt man immer wieder auf diese These. Oft schwingt darin mit, dass die Schutz-Maßnahmen gegen das Coronavirus unnötig seien, wenn sich alle gesund ernähren, genug spazieren und Sport machen würden.

Schützt ein funktionierendes Immunsystem vor einer Covid19-Infektion?

Ob man sich mit dem Coronavirus infiziert oder nicht, hängt nicht davon ab, ob man ein funktionierendes oder ein geschwächtes Immunsystem hat, sondern davon, ob man Virus-Aerosole einatmet oder nicht. Wer Virus-Aerosole einatmet, ist infiziert und dadurch auch potentiell ansteckend. Das verhindert auch ein funktionierendes Immunsystem nicht.

Schutz vor einem schweren Covid19-Verlauf?

Die meisten Menschen, die sich mit dem Coronavirus infizieren, haben keine oder nur sehr milde Symptome. Einige dagegen haben sehr schwere oder sogar tödliche Verläufe. Macht an dieser Stelle ein funktionierendes Immunsystem den entscheidenden Unterschied? Schützt ein funktionierendes Immunsystem also vor einem schweren oder tödlichen Verlauf?

"Es gibt Hinweise darauf, dass eine funktionierende Immunabwehr direkt nach der Ansteckung eine Rolle spielt", sagt Carsten Watzl, Immunologe an der TU Dortmund. Aber darauf verlassen könne man sich nicht. Das Immunsystem sei - wenn überhaupt - nur einer von vielen Faktoren, die noch gar nicht alle bekannt sind. Er weist darauf hin, dass durchaus auch junge, gesunde Menschen mit einem völlig intakten Immunsystem schwer erkranken.

Auch eine neue Studie eines Forschungsteams der Charité Berlin und des Max-Delbrück-Centrums für Molekulare Medizin verdeutlicht, dass die Annahme zu kurz greift, dass Menschen mit einem schwachen Immunsystem eher schwer erkranken. Denn vor allem bei schweren Verläufen arbeitet das Immunsystem unter Hochdruck, schafft es aber nicht, das Virus zu besiegen.

Die Studienergebnisse zeigen im Gegenteil, wie Sars-CoV-2 einen Mechanismus des Immunsystems nutzt, der eigentlich zur Abwehr gedacht ist und diesen in sein Gegenteil verkehrt. Was eigentlich als "Verteidigungsmechanismus" funktioniert, ermöglicht dem Virus SARS-CoV-2 wohl, immer mehr Zellen des Körpers zu entern und sich dort zu vermehren. "In diesem Stadium ist nicht mehr das Virus der Bösewicht, sondern das Immunsystem selbst", erklärt Immunologe Watzl. Deshalb werden in dieser Phase der Erkrankung auch immununterdrückende Medikamente zur Behandlung gegeben.

Immunsysteme der Risikogruppen

Man weiß, dass alte Menschen und Menschen mit einer Vorerkrankung ein deutlich höheres Risiko haben, schwer zu erkranken und zu sterben, als junge Menschen. Hier spielt das Immunsystem in der Tat eine Rolle. Eine Forschungsgruppe der Charité Berlin fand heraus, dass wichtige Zellen des Immunsystems, die T-Helferzellen, bei Menschen der Risikogruppen zwar besonders häufig gebildet werden, aber nicht richtig funktionieren. Das könnte hinderlich für eine effiziente Bekämpfung des Erregers sein.

Insofern deutet zwar viel darauf hin, dass viele schwere Verläufe mit dem Immunsystem zusammenhängen, das heißt aber nicht, dass die Betroffenen daran etwas ändern können, so der Virologe Marco Binder vom deutschen Krebsforschungsinstitut in Heidelberg: "Was Menschen für einen schweren Covid-19-Verlauf prädestiniert, sind große Einschnitte in die Funktionsfähigkeit des Immunsystems, die wir nicht selbst in der Hand haben. Also genetisch bedingte Immundefekte, Alter oder Vorerkrankungen."

Vitamine haben keinen Einfluss

Das heißt, diese spezifischen Defizite des Immunsystems haben nichts damit zu tun, ob diese Menschen sich grundsätzlich gesund ernähren oder genug an die frische Luft gehen. "Wir haben im Moment keine Möglichkeit, durch irgendwelche Vitamine oder Mittelchen ein normal funktionierendes Immunsystem spezifisch gegen Sars-CoV2 zu stärken", so Watzl. Die einzige wirksame und zielgenaue Stärkung des Immunsystems gegen das Corona-Virus sei die Impfung.

Warum manche Menschen mit einem funktionierenden Immunsystem gar keine Symptome haben, andere aber einen schweren Verlauf erleiden, ist noch nicht abschließend geklärt. Studien weisen aber darauf hin, dass die Menge an Aerosolen, der jemand ausgesetzt ist, eine Rolle spielt. Wer nur wenig Virus-Aerosole einatmet, kommt wahrscheinlich glimpflicher davon als jemand, der eine größere Dosis Virus abbekommt.

Macht ein funktionierendes Immunsystem Masken und Abstand überflüssig?

Klar ist also: Ein funktionierendes Immunsystem ist natürlich besser als ein geschwächtes Immunsystem und ausgewogene Ernährung, frische Luft und genügend Schlaf immer eine gute Idee. "Aber", so Watzl, "selbst wenn alle Menschen ein funktionierendes Immunsystem hätten, wäre diese Pandemie nicht vorbei." Erstens sei das Immunsystem - wenn überhaupt - nur ein Faktor unter vielen, die darüber entscheiden, ob und wie schwer jemand erkrankt. Zweitens schützt es nicht vor einer Infektion, also auch nicht davor, jemanden unbemerkt anzustecken. Masken, Abstandhalten und die Hygieneregeln sind also dringend notwendig - egal, wie das eigene Immunsystem funktioniert.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete SWR2 Impuls am 26. Januar 2021 um 16:05 Uhr.