Demonstrant sitzt auf einem Wegweiser, auf dem Nanterre steht und hält einen Bengalisches Feuer.
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Proteste in Frankreich Flut an falschen Videos und Bildern

Stand: 03.07.2023 17:11 Uhr

Im Zusammenhang mit den Ausschreitungen in Frankreich werden in den sozialen Medien zahlreiche Bilder und Videos geteilt. Dabei stammen viele gar nicht von den derzeitigen Protesten, sondern sind Desinformation.

Von Carla Reveland und Pascal Siggelkow, ARD-faktenfinder

Brennende Autos, hochgerüstete Polizisten, Tausende Demonstranten: Die Proteste in Frankreich liefern zum Teil spektakuläre Bilder, die natürlich auch in den sozialen Netzwerken weit verbreitet werden. Doch wie so häufig in solchen Ausnahmesituationen, handelt es sich bei vielen der geteilten Inhalte um falsche oder irreführende Informationen.

Ein weit verbreitetes Video unter anderem auf TikTok zeigt beispielsweise mehrere Autos, die offenbar aus einem Parkhaus herunterfallen und beim Aufprall auf der Straße explodieren. Doch diese Szenen wurden weder in Frankreich aufgenommen, noch handelte es sich dabei um Ausschreitungen: Eine Bilderrückwärtssuche zeigt, dass das Video bereits im Jahr 2016 aufgenommen wurde - und zwar in Cleveland im US-Bundesstaat Ohio. Und auch der Kontext ist ein vollkommen anderer: Die Aufnahmen entstanden am Set des Actionfilms "Fast and Furious 8".

Szenen aus Filmen und Serien

Es gibt noch weitere Beispiele dafür, wie Filme und Serien für Desinformation im Zusammenhang mit den Protesten in Frankreich genutzt werden. So wurden unter anderem auf Twitter Bilder eines am Boden liegenden Polizisten geteilt, das Gesicht voller Blut. Nutzer teilten das Bild unter anderem mit der Forderung, Einwanderung zu stoppen und suggerierten damit, dass es sich bei den mutmaßlichen Tätern um Migranten gehandelt habe. Doch auch dieses Bild ist gar nicht im Zusammenhang der aktuellen Proteste entstanden.

Denn hierbei handelt es sich ebenfalls um Aufnahmen eines professionellen Filmsets: Bei dem vermeintlichen Polizisten handelt es sich um den französischen Schauspieler Raphael Sergio, wie er der französischen Tageszeitung "Liberation" bestätigte.

Auch ein Foto, das angeblich protestierende Jugendliche zeigen soll, die mit einem gestohlenen Polizeiwagen durch die Stadt fahren, stammt ursprünglich aus einem Film - in dem Actiondrama "Athena" geht es um Aufstände nach einem Fall von Polizeigewalt in einer französischen Vorstadt. Aufgrund der Ähnlichkeit zur realen Situation finden sich Szenen daraus aktuell besonders häufig im Umlauf und werden schnell verbreitet.

Auch ein Bild aus einer deutschen Serie wurde fälschlicherweise im Zusammenhang mit den Protesten in Frankreich verbreitet. Das Foto zeigt eine Szene der Serie "Dogs of Berlin", in denen sich ein Protagonist mit Maschinengewehrtattoo am Hals gegenüber einem Polizisten aufbaut. Das Bild wurde bereits in der Vergangenheit für Desinformation verwendet.

Falscher Kontext

Doch nicht nur Szenen aus fiktiven Filmen verbreiteten sich fälschlicherweise in den vergangenen Tagen, auch ältere Videos und Bilder wurden in den falschen Kontext gestellt. So gibt es mehrere Videos, die zeigen sollen, dass im Zuge der Ausschreitungen aus Zoos entlaufene Tiere durch französische Städte liefen. So ist auf einem Video unter anderem ein Zebra zu sehen, das angeblich von Protestierenden aus einem Zoo befreit worden ist.

Doch auch hier ergibt eine einfache Bilderrückwärtssuche, dass das Video erstmals im April 2020 hochgeladen wurde - und zwar handelte es sich dabei um ein entlaufenes Zebra aus einem Zirkus in einem Pariser Vorort. Ein Video, das einen Ziegenbock auf den Straßen zeigt, wurde wiederum auf TikTok bereits im Januar hochgeladen und somit auch lange vor den aktuellen Protesten.

Ebenfalls in einem falschen Kontext hochgeladen wurde ein Video, in dem angeblich mit AK-47 bewaffnete Protestierende Polizisten attackieren sollen. Dieses Video stammt ursprünglich aus dem Januar 2015 und zeigt den islamistisch motivierten Terroranschlag auf die Mitarbeiter der französischen Satirezeitschrift Charlie Hebdo.

Falsche Angaben über Opfer

Eine weitere Fälschung ist ein unter anderem auf Twitter verbreitetes Schreiben der französischen Polizei, dass das Internet in bestimmten Bezirken vorübergehend eingeschränkt werden soll. Das französische Innenministerium schrieb dazu auf Twitter, dass es sich bei dem Dokument um eine Fälschung handele.

Auch zur Tat und dem von der Polizei getöteten Jugendlichen Nahel M. sind diverse Falschmeldungen zu finden. So soll ein Video angeblich zeigen, wie er vor der Tat in seinem gelben Auto ein schnelles und waghalsiges Überholmanöver durchführt. Doch das Kennzeichen des Autos in dem Video ist ein anderes als das des Autos des 17-Jährigen.

Auch über die kriminelle Vergangenheit des Opfers gibt es falsche Behauptungen. So schreibt ein venezolanischer Politiker beispielsweise, Nahel M. sei unter anderem wegen Raub und Drogenhandel vorbestraft gewesen. Dabei hatte dieser laut seinen Anwälten keine Vorstrafen und sei bislang lediglich durch kleinere Delikte wie Fahren ohne Führerschein aufgefallen.

"Großes Bedürfnis nach Einordnung"

Dass in Ausnahmesituationen oftmals viele Falschinformationen verbreitet werden, hat nach Ansicht von Pia Lamberty, Sozialpsychologin und Geschäftsführerin des Center für Monitoring, Analyse und Strategie (CeMAS), mehrere Gründe. "In Ausnahmesituationen passiert sehr viel in sehr kurzer Zeit. Es besteht ein großes Bedürfnis nach Einordnung, nach Updates", sagt sie. Zudem nehme die Menge an Postings in Ausnahmesituationen oft rasant zu. "Das macht es für Menschen noch schwieriger, valide von falschen Informationen zu unterscheiden."

Hinzu komme, dass sich auf Social Media negative, extreme Inhalte besonders schnell verbreiteten. "Menschen teilen solche Inhalte oft nicht mit böser Absicht, sondern vielleicht weil sie schockiert sind oder es sie emotional mitnimmt", sagt Lamberty. "Die Verunsicherung und der Wunsch nach schnellen Informationen, vielleicht sogar dramatischen Bildern, lässt einen Raum entstehen, in dem sich Desinformation besonders leicht verbreitet." Antidemokratische Akteure und Propagandisten versuchten, diese Momente zu nutzen, um ihre Themen zu setzen und die Verunsicherung zu vergrößern.

Desinformationen von unterschiedlichen Akteuren

Desinformationen, die rund um die französischen Ausschreitungen kursieren, werden von unterschiedlichen Akteuren erstellt und verbreitet. Nicht immer lässt sich klar zuordnen oder zurückverfolgen, von wem die falschen oder aus dem Kontext gerissenen Informationen stammen. In einigen Fällen ist es jedoch möglich, auf den Verfasser und seine Intention zu schließen.

So kursiert eine angebliche Nachrichten-Schlagzeile, in der es heißt, dass die französische Polizei mit amerikanischen Gewehren beschossen wird, die möglicherweise aus der Ukraine kommen. Das Bild stammt jedoch aus einem Workshop für Trophäenjäger im Jahr 2022 in der französischen Region Hauts-de-France und hat mit den derzeitigen französischen Aufständen nichts zu tun. Diese Falschnachricht wurde von kremlnahen Nutzern auf Telegram und Twitter geteilt. "Man sieht, dass russische Propagandisten versuchen, die Lage in Frankreich für ihre Zwecke zu nutzen und die Spannungen weiter zu verstärken", stellt Lamberty fest.

Gleichzeitig instrumentalisieren Rechtsextreme die Lage in Frankreich, um Stimmung gegen Menschen mit Migrationshintergrund zu machen. Es wird von einem angeblichen "Kalifat" geschrieben oder einer "Machtübernahme" durch Menschen, die für Rechtsextreme nicht als französisch gelten.

Lage wird auf Deutschland übertragen

In Deutschland wird die aktuelle Lage in Frankreich ganz besonders von der AfD politisch auf Deutschland übertragen. So schreibt etwa AfD-Parteichefin Alice Weidel auf Twitter, dass dies die "Zukunft Deutschlands" sei. Ihr Parteikollege Martin Hess äußert sich ähnlich und behauptet, "die Frage ist längst nicht mehr ob, sondern nur noch wann" wir bald "französische Zustände" hätten.

"Das alles dient der Festigung rassistischer Klischees und dem Narrativ einer angeblichen Überfremdung", erläutert Lamberty. Man erhoffe sich so die eigene Wählerbasis auszubauen und sich als die "Stimme der Vernunft" zu inszenieren, die für das "Volk" einsteht. Es gehe nicht darum, gesellschaftliche Probleme zu lösen, sondern darum, Feindbilder zu schüren und Demokratien zu destabilisieren.

Rassistische Hetze arbeite oft mit apokalyptischer Skandalisierung, da man hoffe, auf diese Weise noch mehr Menschen an sich zu binden - oder sie gar zu radikalisieren, sagt die Sozialpsychologin.

Auch andere, wie beispielsweise Ex-Bild-Chef Julian Reichelt, zeichnen ein desaströses Bild der Zukunft Deutschlands aufgrund der angeblich "versagenden Migrationspolitik". "Wir züchten uns einen islamistischen Bürgerkrieg im eigenen Land." Offene Grenzen würden freie Gesellschaften beenden, schreibt Reichelt auf Twitter.

Politische Debatten werden instrumentalisiert

In rechtsextremen und verschwörungsideologischen Telegram-Kanälen sind Beiträge, die den Begriff "Frankreich" enthalten, seit Ende Juni extrem angestiegen, wie eine Auswertung des CeMAS zeigt. Der österreichische rechtsalternative Sender AUF1 spricht etwa von "Ethno-Krawallen" und einer "blutigen Multikulti-Illusion."

"Wann immer es Themen gibt, die sich für eine populistische oder rechtsextreme Instrumentalisierung eignen, werden diese auch genutzt", resumiert Lamberty. Das könnten aktuelle politische Debatten sein wie das Thema Wärmepumpe, Krisen wie Klima, Corona oder wirtschaftlich angespannte Zeiten oder eben Ausschreitungen wie in Frankreich. "Nicht immer sind solche Versuche der Instrumentalisierung erfolgreich auf gesamtgesellschaftlicher Ebene, aber für Anhänger von rechtsextremen Ideologien sind sie häufig eine zusätzliche Bestätigung des eigenen Weltbildes."