Newsroom des arabischen Nachrichtensenders Al Dschasira
Kontext

Katarischer Sender Al Jazeera Schützenhilfe für die Hamas

Stand: 05.02.2024 14:13 Uhr

Kaum ein Medium ist im Gazastreifen so präsent wie der katarische Sender Al Jazeera. Dessen Inhalte erreichen in den sozialen Netzwerken Millionen von Menschen - und sind oft sehr einseitig.

Von Carla Reveland und Pascal Siggelkow, ARD-faktenfinder

Ende Januar tauchte ein seitenlanges Dokument der militant-islamistischen Hamas im Internet auf, in dem die Terrororganisation den Angriff am 7. Oktober auf Israel rechtfertigte. Die verübten Gräueltaten werden verschwiegen, stattdessen gibt es zahlreiche Anschuldigungen gegenüber Israel. Veröffentlicht wurde das Dokument vom Sender Al Jazeera - ohne Kontext oder sonstige Anmerkungen.

Bereits am 7. Oktober bot Al Jazeera dem in der katarischen Hauptstadt Doha lebenden Anführer der Hamas, Ismael Haniyeh, eine Plattform für seine Propaganda. Dieser rief im Sender zum "Widerstand" gegen die "zionistische Aggression" auf, wie die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" berichtete. Die Terroristen bezeichnete er demnach als "Helden" und sprach von einem "großen Erfolg".

Hohe Präsenz im Gazastreifen

Der katarische Fernsehsender Al Jazeera prägt aktuell die Berichterstattung zum Krieg in Nahost aus dem Gazastreifen. Sehr viele Bilder und Videos, die derzeit aus dem Gazastreifen zu sehen sind, stammen von Al Jazeera, da dies nahezu das einzige Medium ist, das vor Ort seit Jahren stationierte Mitarbeitende hat und deshalb aktuell auch ohne Begleitung des israelischen Militärs aus dem Gazastreifen berichtet.

Die Grenze zwischen Nachrichtenberichterstattung und Propaganda ist hierbei jedoch fließend - die Nähe zur Terrororganisation Hamas ist gerade in der Nahostberichterstattung ein wichtiger Faktor, den es zu beachten gilt.

Propaganda-Vorwürfe von verschiedenen Seiten

Aufgrund dessen gibt es reichlich Kritik an Al Jazeera: "Dieser Sender hetzt gegen die Bürger Israels, er filmt unsere Truppen in Versammlungsgebieten außerhalb von Gaza. Er ist ein Propaganda-Sprachrohr", sagte der israelische Informationsminister Shlomo Karhi.

Auch in Deutschland gibt es Stimmen, die die Glaubwürdigkeit des Senders anzweifeln - unter anderem die von Michael Blume, Antisemitismusbeauftragter der baden-württembergischen Landesregierung.

Was ist Al Jazeera?

Gegründet wurde Al Jazeera im Jahr 1996 vom damaligen katarischen Staatsoberhaupt Emir Hamad Bin Khalifa Al Thani. Innerhalb kurzer Zeit erreichte der Sender ein großes Publikum im arabischen Raum. Denn anders als die meisten größeren Medienhäuser dieser Zeit berichtete Al Jazeera auch kritisch über die Staatsoberhäupter und Regierungen in dieser Region. So wurde der Sender insbesondere bei Oppositionellen beliebt und zu einem wichtigen außenpolitischen Instrument für Katar.

Vor allem die islamistische Muslimbruderschaft nutzte Al Jazeera, um die eigenen Ansichten zu verbreiten - zum Teil mit eigenen Sendungen. Für diese Nähe wurde Al Jazeera in der Vergangenheit immer wieder kritisiert, vor allem während des sogenannten Arabischen Frühlings Anfang der 2010er-Jahre. Damals hatten es die Muslimbrüder unter anderem in Ägypten an die Macht geschafft.

Entwicklung hin zum Propagandasender

"Es war damals schon eine Revolution, dass zum ersten Mal freies Fernsehen im Nahen Osten empfangbar war", sagt Andreas Jacobs, der von 2007 bis 2012 das Auslandsbüro der Konrad-Adenauer-Stiftung in Kairo leitete und heute Leiter der Abteilung Gesellschaftlicher Zusammenhalt der Stiftung ist.

Mittlerweile würde Jacobs Al Jazeera jedoch nicht mehr als seriösen und schon lange nicht mehr als freien Sender einstufen. Er sieht Al Jazeera als Teil einer breiten islamistischen Argumentationsfamilie zu der Jacobs neben der Muslimbruderschaft auch die Terrororganisation Hamas zählt.

Denn der Terrororganisation Hamas kommt die Nähe Katars zu islamistischen Gruppen zugute. Der Chef des Hamas-Politbüros residiert einem Bericht Guido Steinbergs von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) zufolge in einem Büro in der Hauptstadt Doha, auch finanzielle Unterstützung floss demnach von Katar an die Hamas.

Steinberg vermutet hinter der Unterstützung der Muslimbrüder und der Hamas auch populistische Motive Katars: "In der arabischen Welt sind die Islamisten nach wie vor die stärksten oppositionellen Kräfte", schreibt er. "Sie könnten weiterhin die Akteure der Zukunft in der arabischen Welt sein, und ihr Unterstützer Katar würde im Fall neuer Umstürze davon profitieren. So erklärt sich, dass Al Jazeera unverändert wie ein Propagandasender für die Muslimbruderschaft und die Hamas operiert."

Englisches Programm für westliches Publikum

Al Jazeera gilt als reichweitenstärkster Sender im arabischsprachigen Raum. Doch nicht nur im Nahen Osten ist Al Jazeera erfolgreich - nach eigenen Angaben erreicht der katarische Nachrichtensender weltweit mehr als 430 Millionen Menschen. Der Sender richtet sich mit seinem Programm längst nicht mehr nur an arabische Zuschauer: Das englischsprachige Angebot AJ+ in den sozialen Netzwerken ist explizit auch an ein europäisches und US-amerikanisches Publikum adressiert.

AJ+ gibt sich im Westen strategisch modern und progressiv, was auch als "woker Islamismus" bezeichnet wird. So finden sich etwa auch Inhalte, die sich für die Rechte von LSBTIQ* einsetzen - obwohl Homosexualität in Katar mit bis zu sieben Jahren Gefängnis bestraft werden kann, unter bestimmten Bedingungen droht gar die Todesstrafe.

"Al Jazeera bedient sich zunehmend progressiver Diskurselemente der westlichen Welt und dockt mit sehr gezielter Ansprache an die Erfahrungen und Lebenswirklichkeiten muslimischer Jugendlicher an", sagt Jacobs. Viele Inhalte von AJ+ beziehen sich auf konkrete Diskriminierungs- und Ausgrenzungserfahrungen von muslimischen Jugendlichen, welche sie in Deutschland oder anderen westlichen Ländern erleben.

"Diese Erfahrungen der Ungerechtigkeit werden in Kontext gesetzt mit dem islamistischen Narrativ der Opferrolle von Muslimen und einer internationalen Islamfeindlichkeit, gegen die man zusammenstehen und sich wehren müsse", so Jacobs.

Massiver Zuwachs nach Hamas-Angriff

Das Programm für ein englischsprachiges Publikum scheint seit dem Terroranschlag der Hamas auf Israel am 7. Oktober besonders erfolgreich zu sein. Seitdem hat der Instagram-Account "Al Jazeera English" einer Auswertung des Center für Monitoring, Analyse und Strategie (CeMAS) für tagesschau.de zufolge mehr als 1,3 Millionen Follower dazugewonnen und damit nun eine Abonnentenzahl von mehr als 4,3 Millionen - ein Zuwachs von knapp 44 Prozent.

Ähnlich verhält es sich mit AJ+. Das Jugendangebot des Senders konnte seine Abonnentenzahlen seit dem 7. Oktober um 38 Prozent steigern und liegt nun bei 1,3 Millionen Followern.

"Eine besorgniserregende Entwicklung"

Insgesamt liefere Al Jazeera seit Jahren eine sehr einseitige Berichterstattung des Nahost-Konflikts, sagt Jacobs. Der Sender zeige emotionalisierende Augenzeugenberichte und Bilder von verletzen palästinensischen Kindern oder trauernden Frauen, lasse dabei jedoch die israelische Perspektive weg. "Dadurch entsteht eine Wahrnehmungsverschiebung der Wirklichkeit. Und Al Jazeera wird hier eine ganz andere Glaubwürdigkeit geschenkt, da sie näher dran sind an den Lebensrealitäten muslimischer Jugendlicher", so Jacobs.

Begriffe wie Widerstand, Genozid oder Apartheid würden laut Jacobs ganz selbstverständlich nebenbei benutzt, aktiv besetzt und nicht hinterfragt. Vielmehr habe sich die Erzählung durchgesetzt, dass der Terrorangriff der Hamas am 7. Oktober eine legitime Reaktion jahrzehntelanger Apartheid gewesen sei.

"Zugespitzt ist die Erzählung, dass die Israelis am Massaker der Hamas quasi selber schuld sind. Und das halte ich nicht nur für eine grotesk falsche, sondern auch für eine besorgniserregende Entwicklung für Deutschland, weil es Abgrenzungsdiskurse verstärkt und den gesellschaftlichen Zusammenhalt zunehmend gefährdet", sagt Jacobs.

Falschinformationen über Explosion am Krankenhaus in Gaza

Besonders deutlich wurde das Mitte Oktober: Nach einer Explosion an einem Krankenhaus im Gazastreifen hatte auch Al Jazeera unter Berufung auf die von der Hamas kontrollierte Gesundheitsbehörde die Meldung verbreitet, Israel habe die Klinik mit einer Rakete angegriffen und mehrere Hundert Menschen seien gestorben - eine Version, die später starke Zweifel aufkommen ließ.

Die Meldung sorgte weltweit für spontane Versammlungen, auf denen auch antisemitische Inhalte verbreitet wurden. Nach Angaben des Bundesverbands der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus (RIAS) kam es auch in Deutschland zu einem sprunghaften Anstieg antisemitischer Kundgebungen. Bei vielen pro-palästinensischen Kundgebungen kam es der Nichtregierungsorganisation Reporter ohne Grenzen (RSF) zufolge auch "verstärkt zu Drohungen, Beleidigungen und Angriffen auf Berichterstattende".

Nach Ansicht von RSF sind die Übergriffe "Ausdruck eines intensiven Misstrauens gegenüber Journalistinnen und Journalisten". Jacobs bestätigt dies. "Das Misstrauen in die westlichen Medien schürt Al Jazeera gezielt, indem sie beispielsweise behaupten, die westliche Medien würden die Wahrheit verschweigen, wohingegen sie als einzige die Wahrheit abbilden."

Türkischer Sender auf Erdogans Linie

Erzählungen wie diese gehen weit über die Berichterstattung von Al Jazeera hinaus. Der katarische Nachrichtensender ist neben Newsfluencern, Islambloggern und anderen staatlich kontrollierten Medien nur ein Teil der Medienlandschaft, die verzerrend über den Krieg in Nahost berichtet.

Auch der öffentlich-rechtliche Sender Türkiye Radyo ve Televizyon Kurumu (TRT) in der Türkei übernimmt immer wieder pro-palästinensische oder antiisraelische Narrative - und verbreitet dabei manchmal auch Falschmeldungen. So teilte der Sender in den sozialen Netzwerken Bilder einer vermeintlichen Aktion, bei der an der Fassade des Bundestagsgebäudes eine palästinensische Flagge und der Satz "Genozid in Gaza sofort stoppen" projiziert worden sein soll. Diese Aktion hat es in Wahrheit jedoch nie gegeben.

Auch TRT Deutsch konnte seit dem 7. Oktober mit seiner Art der Berichterstattung die Abonnentenzahlen um 33 Prozent steigern und hat nun eine Followerschaft von etwas als 216.000.

Bei der inhaltlichen Ausrichtung des Senders spielt auch Präsident Recep Tayyip Erdogan und dessen Partei AKP eine Rolle. Denn Erdogan hat nahezu alle reichweitenstarken Medien im Land auf seine Linien gebracht: Nach Angaben der Menschenrechtsorganisationen Article 19 und Human Rights Watch (HRW) sind 90 Prozent der landesweiten traditionellen türkischen Medien eng mit der Regierung verbunden und berichten "unverhältnismäßig stark über Präsident Erdogan und die Kampagne der Regierungspartei".

Türkei Teil des Problems

TRT übernimmt in der Berichterstattung über den Krieg in Nahost ähnliche Narrative wie Erdogan selbst. Dieser hatte unter anderem Israel als "Terrorstaat" und die Terrororganisation Hamas als "Befreiungsorganisation" bezeichnet. In Artikeln von TRT Deutsch wird die Hamas eine "Widerstandsorganisation" genannt, zudem ist die Rede von einem "israelischen Vernichtungskrieg".

"Die türkische Regierung und staatsnahe türkische Medien haben sich dem islamistischen Sprachgebrauch der Muslimbrüderschaft angeglichen", sagt Jacobs. "2013 ist die ägyptische Muslimbruderschaft in nicht unerheblichen Teilen nach Istanbul übergesiedelt. Zusammen mit Katar ist die Türkei der Staat, der am stärksten diese Narrative unterstützt und auch in seiner medialen Darstellung verbreitet. Insofern sind sie da Teil des Problems."

Dieses Thema im Programm: Dieser Beitrag lief am 20. Januar 2024 um 13:10 Uhr im Deutschlandfunk.