Ein Transparent mit der Aufschrift "Stoppt den Genozid in Gaza" ist bei einer Pro-Palästina-Kundgebung in Berlin zu sehen.
Kontext

Desinformationen zu Israel "Vom Opfer zum Täter gemacht"

Stand: 28.11.2023 09:17 Uhr

Seit dem Terrorangriff der Hamas auf Israel verbreiten sich online sowie offline viele Falschmeldungen und antiisraelische Narrative. Viele sind nicht neu, knüpfen an bestehende Feindbilder an und sind im Kern antisemitisch.

Israel töte gezielt palästinensische Kinder, der Terrorangriff der Hamas sei inszeniert oder Israel begehe einen Genozid in Gaza. Diese falschen Behauptungen gehören zu der am meisten verbreiteten Desinformation zum Krieg in Nahost - und davon gibt es zahlreiche.

Seit Beginn der Angriffe der Terrororganisation Hamas auf Israel Anfang Oktober begleitet eine Masse an Falschinformationen die Ereignisse, welche nach wie vor anhält und ein enormes Ausmaß erreicht. So mischen sich zwischen authentische Bilder und Informationen aus dem Kontext gerissene Aufnahmen, Videospielsequenzen oder gefälschte angebliche Regierungsdokumente. Viel Desinformation transportiert dabei alte antisemitische Narrative, die auf die aktuelle Situation angewendet wird und an bestehende Feindbilder anknüpft.

Täter-Opfer-Umkehr

Angebliche sogenannte "false flag"-Operationen durch Israel kursieren in zahlreichen verschiedenen Ausführungen und erreichen große Reichweiten. Zu Beginn des Kriegs hieß es massenhaft, die Massaker der Hamas seien durch Israel inszeniert gewesen. Aktuell kursiert die Verschwörungserzählung, die israelische Regierung stecke hinter dem Messerangriff in Dublin oder den Anschlägen in Brüssel. Dafür gibt es keinerlei Hinweise oder Beweise - vielmehr sind vermeintliche Belege als Fälschungen klar zu identifizieren.

Narrative wie diese, die israelische Regierung handele im Geheimen und habe beispielsweise von Terroranschlägen gewusst, sie zugelassen oder gar fingiert, dämonisieren Israel und stellen das Land als geheim agierende Macht dar. In unterschiedlichen Posts wird suggeriert, dass Israel nicht einmal vor der Ermordung der eigenen Bevölkerung zurückschrecke, sogar davon profitieren oder vermeintlich geheime Pläne damit umsetzen wolle.

"Israel wird bei diesem Narrativ vom Opfer zum Täter gemacht", sagt Samuel Salzborn, Antisemitismusbeauftragter des Landes Berlin. Das sei antisemitisch und darüber hinaus schlichtweg eine Lüge, da es keinerlei Belege hierfür gebe. "Dafür kann es auch keine Belege geben, man muss es raunen, man muss es als Gerüchte in die Welt setzen, die nicht belegbar sind, weil die Unterstellung ja wäre, es gäbe einen Plan. Das ist ein Verschwörungsmythos", so Salzborn.

Alte antijüdische Stereotype

Ähnlich sei es mit der Bezeichnung Israels als "Kindermörder". Hier würden alte religiöse antijüdische Stereotype transformiert und in die Gegenwart übertragen. Das habe nichts mit Kritik an der Politik Israels zu tun, sondern sei eine Form von säkularisiertem traditionellem Antisemitismus, erläutert Salzborn.

Um israelbezogenen Antisemitismus von Kritik an der israelischen Regierungspolitik zu unterscheiden, kann man den sogenannten 3D-Test von Natan Scharanski heranziehen, der folgende drei Punkte aufzeigt: Dämonisierung, Delegitimierung und doppelte Standards.

Die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus e.V. Bayern (RIAS) schreibt in der Broschüre "From the river to the sea": "Das Motiv des kindermordenden Israel geht zurück auf die mittelalterliche antisemitische Ritualmordlegende, nach der Juden Kinder ermorden, um deren Blut für rituelle Zwecke zu verwenden."

"Die Unterstellung, Israel bringe vorsätzlich Kinder um, ist mitnichten der Fall. Ganz im Gegenteil wird auch bei militärischen Handlungen Wert darauf gelegt, die palästinensische Zivilbevölkerung und darunter natürlich auch ganz besonders Kinder zu schonen und zu vermeiden, dass Zivilbevölkerung angegriffen, verletzt oder gar getötet wird," sagt Salzborn. Vor dem Hintergrund der jüngsten brutalen Angriffe der Hamas auf Israel sei die Parole besonders perfide. Denn die Hamas habe vorsätzlich geplant und auf bestialische Art auch Kinder, Babys und Jugendliche organisiert ermordet.

Was ist israelbezogener Antisemitismus?

Der israelbezogene Antisemitismus, eine Form des Antisemitismus, wird wie folgt charakterisiert:
- Aberkennung des Existenz- und Selbstbestimmungsrechts Israels
- Vergleich bzw. Gleichsetzung Israels mit dem Nationalsozialismus
- Anlegen anderer Maßstäbe an Israel als an andere Länder
- Verantwortlichmachen von Juden aus aller Welt für das Regierungshandeln Israels
- Bezugnahme auf Israel oder Israelis mit antisemitischen Bildern, Symbolen oder Floskeln

Hamas setzt gezielt auf emotionalisierende Bilder

Dennoch seien sehr viele Bilder von vermeintlich durch Israel getötete Kinder im Umlauf, sagt Pia Lamberty, Psychologin und Geschäftsführerin des Centers für Monitoring Strategie und Analyse (CeMAS). "Bilder von getöteten Kindern lassen niemanden kalt und lösen verständlicherweise Empörung aus."

Doch würden zum einen viele falsche Bilder und Videos verbreitet, die beispielsweise Kinder aus anderen Kriegen zeigen. Zum anderen sei es Teil der Hamas-Strategie durch solche Bilder, Israel als das "absolut Böse" darzustellen und das Mitgefühl für die Menschen in Gaza für ihre Zwecke zu missbrauchen. "Das hat zum Ziel, die Zustimmung für ihre terroristischen Handlungen zu erhöhen. Um das Wohlbefinden der palästinensischen Bevölkerung geht es nicht, sie werden an vielen Stellen, wie auch hier, als Spielball benutzt", sagt Lamberty.

Auch Salzborn erläutert: "Die Hamas verfolgt eine Propagandastrategie, bei der das Ziel eine Emotionalisierung, eine Verhetzung Israels und der Juden ist, und die ihre Adressaten immer weiter in ein antisemitisches Weltbild treibt." Es werde extrem auf Visualität gesetzt, um wenig Anreize zu geben, die Behauptungen zu hinterfragen oder nachzuprüfen.

"Bilder emotionalisieren sofort, egal ob sie tatsächlich entstanden sind, ob sie aus einem anderen Kontext stammen oder ob sie eventuell KI generiert sind und dementsprechend nicht nur der Kontext, sondern das Bild als solches gefälscht ist." Insofern sei es gerade auch in der Intensität, in der solche Bilder ausgespielt werden, ein Teil einer permanent radikalisierenden emotionalen Dauerverhetzung, sagt Salzborn.

Genozid-Behauptung "abwegig"

Bilder, die das Leid der palästinensischen Bevölkerung tatsächlich oder bei Fälschungen vermeintlich zeigen, stärken auch die Behauptung, Israel begehe einen Genozid an der palästinensischen Bevölkerung. Dazu kursieren diverse reichweitenstarke Postings, die sich auf links-progressiven, islamistischen sowie rechten verschwörungsideologischen Accounts finden lassen. Auch warnten 30 unabhängige Berichterstatter der Vereinten Nationen vor einem drohenden Genozid in Gaza.

"Die meisten Menschen möchten natürlich keinen Genozid übersehen und deswegen teilen sie das, auch wenn sie vielleicht nicht so genau wissen, was dahintersteht", sagt Lamberty. Das Leid der palästinensischen Zivilbevölkerung sei ohne Frage enorm und es gebe vermutlich kaum eine Person, die kein Mitgefühl mit den Menschen in Gaza habe. Doch helfen Vorwürfe wie diese laut Lamberty nicht, die Situation zu verbessern. "Die Behauptung, dass Israel einen Genozid ausübe, basiert auf einem antisemitischen Narrativ, welches instrumentalisiert wird, um Israel zu dämonisieren."

Salzborn betont, dass es keinerlei Hinweise darauf gebe, dass der Begriff Genozid einen Bezug zur Realität habe. Die israelische Armee reagiere auf das Agieren der Hamas, welche das schlimmste antisemitische Massaker seit 1945 verübt haben. "Alle Kriterien, die für einen Genozid sprechen, sowohl völkerrechtlich in Bezug auf das Agieren von Israel wie auch auf das ganz konkrete Handeln, sind schlicht und ergreifend völlig abwegig."

Ein Völkermord wird definiert als die "Absicht, eine nationale, rassische, religiöse oder ethnische Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören". Demnach müsste dem israelischen Militär eine Vernichtungsabsicht gegenüber der palästinensischen Bevölkerung nachgewiesen werden. Der Großteil der Experten sieht diese Intention jedoch nicht.

Israel besitzt, entsprechend Artikel 51 der UN-Charta, wie jedes andere Land, ein nicht veräußerliches Recht auf Selbstverteidigung. Das israelische Militär habe zudem beispielsweise Zivilisten vor Angriffen gewarnt und Fluchtkorridore ermöglicht, sagt Salzborn. Im Gegensatz dazu beinhaltet die Gründungscharta der Hamas von 1988 eine Vernichtungsabsicht Israels: "Die Muslime werden sie töten, bis sich der Jude hinter Stein und Baum verbirgt, und Stein und Baum dann sagen: 'Muslim, Oh Diener Gottes! Da ist ein Jude hinter mir. Komm und töte ihn'."

"Kontrafaktisches Milieu"

Beispiele wie die hier aufgeführten zeigen, dass insbesondere israelbezogener Antisemitismus nicht nur in extremistischen Milieus auf fruchtbaren Boden stößt. Diverse Akteure verbreiten bewusst oder unbewusst in den sozialen Netzwerken falsche Informationen. Neben Staaten, wie der Iran oder Russland, die gezielt Desinformation über den Krieg für ihre Zwecke instrumentalisieren, spielen derzeit auch Influencer eine große Rolle, die Desinformation, Propaganda und Fehlinformation verbreiten und damit antisemitische Narrative weiter schüren.

"Influencer agieren, als wären sie Journalisten, teilweise sind oder waren es auch Journalisten", sagt Lamberty. Ihnen werde eine hohe Glaubwürdigkeit zugesprochen, doch oft seien ihre Inhalte mindestens unterkomplex, häufig auch tendenziös oder dienten gezielt der Propagandaverbreitung. "Wie sehr Einzelpersonen, die kein journalistisches Medium sind, für andere Leute, gerade für junge Menschen, die gerade erst in ihrer Politisierung sind, zur Informationsquelle wurden, ist etwas, was einfach extrem vernachlässigt wurde."

Einem Bericht des Reuters Institute for the Study of Jounalism zufolge nutzt tatsächlich ein Fünftel der 18-24-Jährigen TikTok als Nachrichtenquelle. Das bereite Lamberty Sorge für eine demokratische Gesellschaft. "Wenn man so ein kontrafaktisches Milieu hat, findet eine Immunisierung statt gegen Fakten."

Auch Medien können Teil des Problems sein

Noch problematischer werde es, wenn dann auch noch Medien Falschinformationen oder Propaganda übernehmen würden. Das befeuere zusätzlich Antisemitismus, aber führe auch dazu, dass Menschen irgendwann gar nichts mehr glauben. "Das ist unglaublich gefährlich für einen Diskurs. Wenn Wahrheit nichts Objektives, Feststellbares mehr ist, sondern eben einfach verzerrt und attackiert wird, ziehen sich Menschen zurück."

Auch Lügenpresse-Narrative hätten einen antisemitischen Kern: "Die da oben sagen den Medien, was sie schreiben sollen und die da oben sind in diesem Weltbild Jüdinnen und Juden oder der Staat Israel", erklärt Lamberty. Das führe nicht nur zur Verbreitung von antisemitischen Narrativen und eine stärkere Verbreitung von Misstrauen in den Medien, sondern führe auch dazu, dass Jüdinnen und Juden weniger geglaubt werde.

Teilweise wird jedoch auch zu Recht Kritik an medialer Berichterstattung geübt. So übernahm unter anderem der WDR beispielsweise eine falsche Karte, welche die Geschichte des Israel-Palästina-Konflikts verfälscht.

"Brandgefährliches Informationsdesaster"

"Das Ausmaß der kursierenden falschen und bewusst irreführenden Informationen übersteigt jedes bekannte Maß an Des- und Falschinformation zu einem Grad, welches es nahezu unmöglich macht, einzelne Narrative nachzuzeichnen," sagt Lamberty.

Auch die Plattformbetreiber kämen nicht hinterher und würden ihrer Verantwortung nicht gerecht werden, problematische Inhalte zu löschen - oftmals erkenne die Content Moderation klaren Antisemitismus nicht. "Social Media-Plattformen hat man viel zu lange machen lassen, so dass sie inzwischen eine Gefahr für den demokratischen Zusammenhalt und den Frieden darstellen", so Lamberty.

Die professionelle Nutzung des Cyberraums durch die Hamas sei nicht neu, doch der höhere Stellenwert der sozialen Medien bei der gleichzeitigen Tendenz von weniger Content Regulation habe zu diesem "brandgefährlichen Informationsdesaster" geführt.

Propaganda entgegenstellen

Man müsse sich dieser israelfeindlichen, antisemitischen Hochemotionalisierung entgegenstellen, sagt Salzborn. "Man muss immer auch bedenken, inwiefern man ungeprüft Bilder weiterverbreitet, denn diese haben oftmals die Absicht zu emotionalisieren und letztlich Propaganda zu verbreiten."

Generell sei es wünschenswert, sich stets klassische Fragen der Quellenkritik zu stellen, die Plausibilität zu checken, zu überprüfen, ob das ein Propaganda Bild ist oder ob es dafür auch seriöse Belege gibt. "Das sind Grundlagen der Mediennutzung, die für eine grundsätzliche sachliche Bewertung von Vorgängen immer unverzichtbar sind. Dies spielt eine enorm große Rolle für die Frage, wie weit sich Antisemitismus im Netz und in unserer Gesellschaft verbreiten kann."

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete MDR Sachsen-Anhalt am 04. November 2023 um 08:00 Uhr.