Ein Polizist schießt mit Tränengas.
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Erneute Ausschreitungen Frankreichs Problem mit Polizeigewalt

Stand: 29.06.2023 17:27 Uhr

Nach dem tödlichen Polizeischuss auf einen 17-Jährigen in Nanterre ist es in Frankreich zu schweren Ausschreitungen gekommen. Was sind die Ursachen der Polizeigewalt - und was unterscheidet den Fall von früheren?

Eine Analyse von Julia Borutta, ARD Paris

Nahels Tod ist kein trauriger Einzelfall. Schon seit Jahrzehnten kommt es in Frankreich immer wieder zu tödlichen Auseinandersetzungen zwischen meist jungen Männern mit Migrationsgeschichte und Polizeibeamten.

Dass es nun in Nanterre und anderen Orten Frankreichs gewalttätige Ausschreitungen gegeben hat, bei denen allein in der Nacht von Mittwoch auf Donnerstag 170 Polizeibeamte verletzt und 180 Menschen vorläufig festgenommen wurden, verwundert Maître Henri LeClerc, den Präsidenten der Menschenrechtsliga, überhaupt nicht: "Die jungen Leute dieser benachteiligten Viertel fühlen sich dem Getöteten brüderlich verbunden. Da herrscht große Solidarität und ein regelrechter Korpsgeist." 

Ausschreitungen bei Trauermarsch im Pariser Vorort Nanterre nach Tötung eines Jugendlichen durch einen Polizisten

Sabine Bohland, ARD Paris, tagesschau, 29.06.2023 20:00 Uhr

Polizeigewerkschaft kritisiert Staatsspitze

Ein Korpsgeist, der auch unter den Polizeibeamten besteht. Verschiedene Polizeigewerkschaften haben Staatschef Emmanuel Macron und Premierministerin Élisabeth Borne scharf für ihre Reaktion kritisiert. Der Präsident hatte den Tod des Jungen "unerklärlich und unentschuldbar" genannt. Borne wiederum hatte gesagt, das Vorgehen des Polizeibeamten, der geschossen hat, sei "offensichtlich nicht im Einklang mit den Regeln".

Die Empörung auf Seiten der meisten Polizeigewerkschaften war groß: Dies sei eine Vorverurteilung des Kollegen, so die Kritik. Fabien Jobard, Soziologe am Institut CRNS, hält diese Kritik für scheinheilig: "Die Polizeigewerkschaften, allen voran 'Alliance' verbreiten doch bei solchen Vorfällen selbst alle möglichen Details, die gegen das Opfer sprechen. Und das unter Verletzung aller Schutzregeln für Minderjährige und der Unschuldsvermutung." 

Was ist bei diesem Fall von Polizeigewalt anders?

Dass sich diesmal eine Kluft zwischen der Reaktion der Staatsspitze und den Polizeigewerkschaften auftut, ist neu. Zwar verurteilen Innenminister und Präsident die Randale in den Vierteln, aber die spontane, emotionale und unmissverständliche Reaktion von Macron und Borne könnte den entscheidenden Unterschied ausmachen, erklärt Fabien Jobard.

Der Soziologe vergleicht die aktuellen Geschehnisse mit den Ereignissen von 2005. Damals kamen zwei junge Männer, Zeyd und Bouna, in Clichy-Sous-Bois ums Leben, als sie sich bei einer Verfolgungsjagd mit der Polizei in ein Transformatorenhäuschen flüchteten. "Der Unterschied zu 2005 ist, dass die Regierung um Nicolas Sarkozy damals keinerlei Anstalten gemacht hat, die Situation zu beruhigen. Im Gegenteil: Sie heizten die Situation noch an", so Jobard.

Damals hätten die Polizeibeamten sogar provoziert und seien mitverantwortlich für den Ausbruch der Gewalt gewesen, weil sie einen muslimischen Gebetsort mit Tränengas beschossen hätten. Der Ausnahmezustand war verhängt worden, was der amtierende Innenminister Gérald Darmanin heute strikt ablehnt.

Seinen Polizeieinheiten hat er die Vorgabe gemacht sich zurückzuhalten, versichert die Sprecherin des Innenministeriums, Camille Chaize, im Radiosender France Inter: "Er ruft sie zu Professionalismus auf. Sie sollen sich strikt an diese Vorgabe halten und ihre Personenkameras anschalten."

Bei Ausschreitungen mit mehreren Personen brennt ein Auto.

Demonstranten entzünden Autos auf den Straßen von Nanterre.

Gesetzgeber begünstigt Waffengebrauch von Polizisten

Doch ob die Situation so in Schach gehalten werden kann, ist fraglich. Denn die Reflexe auf beiden Seiten sitzen tief. Die Polizei repräsentiert für viele Jugendliche den verhassten Staat, der ihnen kaum Perspektiven biete. Die Polizisten agieren oft nach rassistischen Mustern, in der Regel ohne juristische Konsequenzen. Hinzu kommt: Die Gesetzgebung hat den Einsatz von Schusswaffen zuletzt eher begünstigt.

Nach dem Anschlag von Nizza im Jahr 2016, bei dem ein Islamist mit einem Lkw gezielt in die Menschenmenge fuhr und mehr als 80 Menschen starben, wurde das Gesetz dahingehend geändert, dass Polizisten die Waffe einsetzen dürfen, um ein Fahrzeug zu stoppen, das droht, ein Massaker anzurichten. Einige Monate später im Jahr 2017 wurde dieses Gesetz noch verschärft. Und zwar nachdem zwei Polizisten bei einer Verkehrskontrolle schwer verletzt worden waren.

Der Gesetzgeber gab den protestierenden Polizeibeamten und den Gewerkschaften nach und erlaubte es den Beamten, ihre Schusswaffe einzusetzen, sofern der Kontrollierte sich nicht fügt und auf der Flucht ein Risiko für andere darstellt. Seitdem sei der Einsatz von Schusswaffen um 50 Prozent gestiegen, versichert Soziologe Jobard und bezieht sich auf einen internen Bericht der Generalinspektion der Nationalen Polizei.

Ausbildung von Polizisten bedarf Reform

Doch die Gesetze seien nur das eine, erklärt Maître Henri LeClerc, Präsident der Menschenrechtsliga. Das eigentliche Problem sei die Ausbildung der Polizisten und Polizistinnen. "Sie dürfen nicht nur lernen, wie man eine Waffe bedient. Sie müssen lernen, welche Verantwortung sie tragen. Bringt man ihnen bei, dass sie die Menschenrechte verteidigen? Das sind die wichtigen Fragen!", so LeClerc.

Auch die Sprecherin des Innenministeriums gibt zu, dass es an der Ausbildung der Beamten hapert. Man müsse die Herangehensweise bei solchen Einsätzen weiterentwickeln und oft sei einfach nicht die Zeit, die Interaktion von mehreren Beamten bei Verkehrskontrollen ausreichend zu üben. Man muss wissen: Die Ausbildung zum Polizisten in Frankreich dauert ein Jahr. In Deutschland sind es drei.

Außerdem gibt es seit 2003 keine Kontaktbeamten mehr in den Vierteln. Es war der damalige Innenminister Sarkozy, der erklärte, die Polizei solle keine Sportevents mit den Jugendlichen veranstalten, sondern Verbrecher festnehmen. Das hat dazu geführt, dass die Menschen in den Vororten und die Ordnungshüter einander fremd geworden sind. Es gibt kein Vertrauen mehr in Gerechtigkeit.

Setzt sich die Gewaltspirale fort?

Der Regisseur Mathieu Kassovitz, der mit seinem Film "Der Hass", schon im Jahr 1995 die Gewalt zwischen Polizei und jungen Vorstadtbewohnern zum Thema gemacht hatte, äußerte sich am Mittwoch in den Sozialen Medien. Er sagte: Die einzige Lösung, diese Spirale zu durchbrechen, sei es, "die Polizisten, die unrechtmäßig töten, endlich zu bestrafen".

Korrektur: In einer früheren Version hieß es, der Film "Der Hass" stamme aus dem Jahr 2003. Das ist falsch, er ist von 1995. Die Stelle wurde entsprechend korrigiert.

Mehr zum Hintergrund dieser und anderer Korrekturen finden Sie hier: tagesschau.de/korrekturen
Stefanie Markert, ARD Paris, tagesschau, 29.06.2023 18:13 Uhr

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete die tagesschau am 29. Juni 2023 um 17:00 Uhr.