Vorgetäuschte Vergewaltigungen Polizei dementiert Zahl von 80 Prozent

Stand: 20.12.2018 04:45 Uhr

Die Polizei Rostock hat Berichte dementiert, wonach 80 Prozent der Vergewaltigungen vorgetäuscht seien. Allerdings beobachte man eine steigende Tendenz. Statistiken belegen dies aber nicht.

Von Von Patrick Gensing, ARD-faktenfinder

Acht von zehn Vergewaltigungen seien nur erfunden: Das berichtete die "Ostsee Zeitung" am 12. Dezember. Mehrere Hundert Twitter-Konten teilten den Artikel, auf Facebook verzeichnete der Beitrag mehrere Tausend Reaktionen. Die "Ostsee Zeitung" selbst führte den Artikel auf ihrer Internetseite mehrere Tage als eine der "meistgeklickten" Meldungen auf.

Die "Ostsee Zeitung" berichtete, die Rostocker Kripo habe im vergangenen Jahr 78 Ermittlungsverfahren wegen sexueller Übergriffe gegen Frauen geführt. "63 davon wurden wegen begründeter Zweifel am Ende eingestellt. In 15 Fällen haben wir sogar Verfahren gegen die Frauen einleiten müssen - wegen des Vortäuschens einer Straftat oder auch falscher Verdächtigung", sagte Ermittlerin Britta Rabe der Zeitung.

Ungeklärt nicht gleich vorgetäuscht

Aus den Zahlen ergibt sich allerdings nicht, dass 80 Prozent der Vergewaltigungen erfunden wurden. Zum einen handelt es sich bei den 78 Ermittlungsverfahren nicht ausschließlich um Vergewaltigungen, sondern auch um sexuelle Belästigung und sexuelle Nötigung.

Polizisten in Rostock

Die Polizei registrierte 2017 in Rostock 78 Sexualdelikte.

Zum zweiten bestätigte die Polizei auf Anfrage des ARD-faktenfinder zwar, dass 63 Verfahren eingestellt wurden, weil kein "hinreichender Tatverdacht" ermittelt werden konnte. Das bedeutet im Umkehrschluss nicht zwingend, dass alle erfunden wurden.

Polizei: Steigende Zahl

Auf Anfrage dementierte ein Sprecher der Polizei Rostock die Zahl von 80 Prozent. "Dass acht von zehn Vergewaltigungen vorgetäuscht sind, wurde seitens der Polizei nicht gesagt." Allerdings bestätigte der Sprecher die Darstellung, wonach die Zahl der vorgetäuschten Sexualdelikte seit etwa fünf Jahren steige.

Das Vortäuschen einer Straftat ist mit einer Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren oder einer Geldstrafe bedroht. Aus der bundesweiten Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) lassen sich allerdings keine steigenden Zahlen nach Paragraf 145d Strafgesetzbuch ablesen.

Vortäuschen einer Straftat gegen die sexuelle Selbstbestimmung § 145d StGB
Jahr Fälle nach § 145d StGB Vergewaltigung, bes. schwere Fälle sexuelle Nötigung*
2012 660 8031
2013 601 7408
2014 575 7345
2015 519 7022
2016 558 7919
2017 522 11.282*

*Im Jahr 2017 wurde §177 erweitert. Dadurch ist ein Vergleich zu den Vorjahren nicht mehr möglich, da nun weitere Delikte (sexuelle Nötigung, "grapschen") erfasst werden.

"Einzelfälle"

Die Statistiken für mehrere Bundesländer - beispielsweise Bayern, Berlin oder Sachsen - zeigen ebenfalls keine Steigerungen. In Sachsen werden jährlich etwa 20 Fälle wegen des Verdachts auf Vortäuschen einer Straftat gegen die sexuelle Selbstbestimmung erfasst. In Berlin gebe es lediglich Einzelfälle, teilte der Sprecher des Justizsenators auf Anfrage mit. Die Zahl von 80 Prozent sei definitiv viel zu hoch.

Die Zahlen für Mecklenburg-Vorpommern sind nicht öffentlich ausgewiesen; die entsprechenden Werte liegen nach einer Anfrage des ARD-faktenfinder bislang noch nicht vor.

Öffentliche Empörung

Was in den vergangenen Jahren offenkundig stark zugenommen hat, sind die Verbreitung von Gerüchten sowie öffentliche Vorverurteilungen - und zwar vor allem dann, wenn Flüchtlinge verdächtigt werden.

So hatte der Fall Lisa 2016 sogar international für Aufsehen gesorgt, die russische Regierung schaltete sich ein, Russlanddeutsche gingen auf die Straße - mobilisiert über Social Media und aufgestachelt durch russische Staatsmedien. Schließlich stellte sich heraus: Die Vergewaltigung durch "Südländer" hatte es nicht gegeben.

Im August hatte eine 14-Jährige behauptet, in der Hamburger Innenstadt von einem Flüchtling vergewaltigt worden zu sein. Der Mann kam in Untersuchungshaft, Medien berichteten ausführlich und holten Stimmen von Politikern ein. Die AfD schrieb in sozialen Medien von einem "afghanischen Schulmädchen-Vergewaltiger". Doch die Staatsanwaltschaft kam zu dem Schluss: Die Angaben des Mädchens ließen in wichtigen Punkten nicht mit den ausgewerteten Beweismitteln vereinbaren. Der Mann kam frei.

Vorwürfe gegen Syrer

In Chemnitz hatten im Frühjahr zwei vermeintliche Vergewaltigungen für Empörung gesorgt. Ein junger Syrer saß 15 Tage in Untersuchungshaft, in den sozialen Netzwerken tobte der Hass. Auch hier ergaben die Ermittlungen später, dass es die Taten nicht gegeben hatte.

Die ehemalige CDU-Abgeordnete Vera Lengsfeld veröffentlichte Ende August einen anonymen Beitrag, in dem behauptet wurde, es seien in diesem Jahr in Chemnitz bereits 60 Frauen vergewaltigt worden - 56 der Täter seien Migranten. Die Polizei teilte in diesem Fall auf Anfrage des ARD-faktenfinder mit: Zwischen Anfang Januar und Ende Juli habe es 14 Vergewaltigungen in der Stadt gegeben, zwölf Fälle wurden aufgeklärt, drei - und nicht 56 - Verdächtige seien keine Deutschen. 

Statistiken fehleranfällig

Was bei diesen Zahlen zu beachten ist: Erst im Oktober stellte sich also heraus, dass die beiden erwähnten Vergewaltigungen in Chemnitz gar nicht stattgefunden hatten - in die Statistik für die Zeit bis Ende Juli dürften sie aber noch eingeflossen sein. Auch bei den Tatverdächtigen tauchten mindestens zwei Personen auf, die unschuldig sind.

Die Statistiken seien in diesem Bereich wenig aussagekräftig, sagt die Sprecherin der Polizei Rostock, Sophie Pawelke, im Gespräch mit dem ARD-faktenfinder. Denn die Polizeiliche Kriminalstatistik führt Verdächtige auf - also auch Personen, die sich später als unschuldig erweisen.

Richtigstellung wird kaum noch wahrgenommen

Bei vorgetäuschten Fällen würden als Täter "südländisch aussehende Personen" genannt, teilte ein Sprecher der Polizei Rostock mit. Mehrere Fälle, die sich als erfunden herausgestellt hätten, sorgten öffentlich für großes Aufsehen. Im Stadtteil Gehlsdorf wurde sogar eine Bürgerwehr gegründet.

Und im März 2017 hatte eine Frau angeben, mehrere Männer hätten auf einer Straße einen Notfall vorgetäuscht. Als sie helfen wollte, sei sie von nicht-deutschen Tätern sexuell belästigt worden, nur durch heftige Gegenwehr habe sie sich befreien können. Durch den Bericht eines Reporters gelangten diese angeblichen Details umgehend an die Öffentlichkeit, der ADAC, ein Opferverband und Tausende Internetnutzer äußerten sich dazu.

Der Polizei kamen im Laufe der Ermittlungen Zweifel. Schließlich wurde das vermeintliche Opfer zu einer Geldstrafe verurteilt. "Dass sich der Vorfall nie ereignet hat, hat später keine Beachtung in der Öffentlichkeit gefunden", sagt ein Polizeisprecher.

Umfangreiche Ermittlungen

Die Polizei betont aber: Jede angezeigte Vergewaltigung und jeder sexuelle Übergriff werde als ernsthaft eingestuft. Es werde alles unternommen, um diese aufzuklären: Dazu gehören Vernehmungen durch speziell ausgebildete Mitarbeiterinnen, Spurenauswertung, Begehung des Tatortes, Fahndungen, Vorlage von Fotos einschlägig vorbestrafter Personen, DNA-Analysen und weitere Maßnahmen.

Die Organisation Terre des Femmes erklärte auf Anfrage des ARD-faktenfinder, die Situation für Betroffene von sexualisierter Gewalt sei "sehr schwierig, da viele Verfahren aus Mangel an Beweisen eingestellt werden. Um dies zu verhindern, müssen die Spuren bei einer Vergewaltigung zeitnah sichergestellt werden. Dies ist in der Regel bisher nur möglich, wenn die Betroffene sofort bereit ist, Anzeige zu erstatten."

Fatale Konsequenzen

Vorgetäuschte Straftaten hätten dramatische Folgen, erklärt Vanessa Bell von Terre des Femmes im Interview. Tatsächlich betroffene Frauen müssten "befürchten, dass ihnen nicht geglaubt wird und sie durch eine Täter-Opfer-Umkehr zum zweiten Mal zum Opfer degradiert werden".

Außerdem werde Gewalt gegen Frauen "instrumentalisiert, um rassistische Forderungen, Vorurteile und Ängste in der Gesamtbevölkerung zu schüren", kritisierte Bell. Tatsache sei, dass "die meisten Gewalttaten in den eigenen vier Wänden stattfinden und nicht in dunklen Straßen von unbekannten Personen". Wenn nur berichtet werde, "wenn es sich bei den Tätern um eine Person anderer Nationalität handelt, entsteht ein verzerrtes Bild. Sexualisierte Gewalt findet in allen sozialen Schichten statt - und zwar in einer dramatischen Regelmäßigkeit."