Polizisten am Rande des Chemnitzer Stadtfests

Vergewaltigungen in Chemnitz Stimmungsmache mit falschen Zahlen

Stand: 06.09.2018 13:48 Uhr

Im Netz kursieren falsche Angaben über die Zahl der Vergewaltigungen in Chemnitz. Mit Kriminalität wird oft Stimmung gemacht. Die Koalition arbeitet an einem Sicherheitsbericht, der die Debatte versachlicht.

Von Patrick Gensing, ARD-faktenfinder

Rund um den gewaltsamen Tod von Daniel H. in Chemnitz wurden bereits zahlreiche gezielte Falschmeldungen verbreitet. Oft das Motiv dahinter: Emotionen schüren, zu Demonstrationen mobilisieren und die Deutungshoheit über die Ereignisse erlangen. So werden nach den rechtsradikalen Demonstrationen in Chemnitz Hitler-Grüße und gewaltsame Ausschreitungen relativiert oder als inszeniert bezeichnet.

Rechtsextreme in Chemnitz, ©JFDA – Jüdisches Forum für Demokratie und gegen Antisemitismus e.V.

Ausschreitungen und Nazi-Symbolik wird im Netz als inszeniert bezeichnet.

Falsche Zahlen zu Vergewaltigungen

Eine weitere Falschmeldung sorgt derzeit im Netz für Aufsehen. So hatte die ehemalige CDU-Abgeordnete Vera Lengsfeld am 28. August den Bericht eines angeblichen Augenzeugen des Tötungsdelikts in Chemnitz veröffentlicht. Darin behauptet die anonyme Quelle, es seien in diesem Jahr in Chemnitz 60 Frauen vergewaltigt worden - 56 der Täter seien Migranten.

Die Zahlen sind falsch. Die Polizei in Chemnitz teilte auf Anfrage des ARD-faktenfinder mit: Zwischen dem 1. Januar und 31. Juli 2018 habe es 14 Vergewaltigungen in der Stadt gegeben, zwölf Fälle wurden aufgeklärt, drei Verdächtige sind keine Deutschen. Also drei statt 56 Tatverdächtige, die keine Deutschen sind.

Keine Quelle

Auch Lengsfeld kamen die Zahlen offenbar fragwürdig vor - und bat den "Augenzeugen" um eine Quelle, die dieser aber nicht nennen konnte, wie Lengsfeld ergänzte. Daher habe sie die Zahlen gelöscht.

Zu diesem Zeitpunkt hatten aber bereits andere Blogs den Bericht übernommen, so dass die falschen Zahlen weiter verbreitet wurden. Daher wurden die Zahlen bereits am 31. August auf Twitter richtiggestellt - mit Hinweis auf die Polizei Sachsen.

AfD-Politiker bezieht sich auf Polizei

Am 4. September veröffentlichte dann der stellvertretende Chef der AfD in Sachsen, Maximilian Krah, einen Artikel im "Deutschland-Kurier". Darin behauptet er: "Seit dem 1.1.2018 wurden in Chemnitz 60 Frauen vergewaltigt. Die Polizei sagt, 56 von Migranten, 4 von Unbekannt."

Screenshot www.deutschland-kurier.org

Bereits widerlegte falsche Zahlen noch einmal veröffentlicht: Artikel von AfD-Funktionär Krah.

Diese Behauptung ist gleich doppelt falsch: Zum einen stammen die Angaben nicht von der Polizei, zum anderen sind die Zahlen nicht korrekt.

Die Polizei stellte diese Falschinformation daher nun auch selbst noch einmal auf Twitter richtig. Die Zahlen, die Krah verwende, seien nicht nachvollziehbar.

Auf dieses Dementi hin schrieb Krah in einem Tweet, er nehme "zur Kenntnis", dass er eine "ungenaue" Zahl der Vergewaltigungen verwendet habe. Er sehe der weiteren Debatte aber "gelassen" entgegen.

Nach Angaben der Polizei Chemnitz nahm die Zahl der Straftaten 2017 im Vergleich zum Vorjahr ab. Deutlich gestiegen ist jedoch die Zahl der registrierten sexuellen Belästigungen. Dazu merkt die Polizei an:

Die Zahl der Vergewaltigung/sex. Nötigung/sex. Übergriffe ist im Vergleich zum Vorjahr um 108 Fälle (+675 %) gestiegen. Diese Zunahme stellt sich sowohl in der Stadt Chemnitz als auch in beiden Landkreisen dar. Dieser Anstieg ist auf die Aufnahme neuer Tatbestände in das Strafgesetzbuch zurückzuführen.

Der Paragraf 177 Strafgesetzbuch war um ungewollte sexuelle Handlungen erweitert worden, die ohne Gewaltanwendung und/oder Drohung geschehen. Diese werden nun als "sexuelle Übergriffe" bezeichnet. Zudem wurde der Straftatbestand "sexuelle Belästigung" gemäß Paragraf 184i Strafgesetzbuch neu geschaffen. Dadurch wird die tätliche Belästigung mit sexuellem Hintergrund ("Grabschen") in die Kategorie der Sexualstraftaten aufgenommen und explizit unter Strafe gestellt.

Koalition plant Sicherheitsbericht

Generell ist die Polizeiliche Kriminalstatistik nur bedingt geeignet, um die Entwicklung der Kriminalität zu erfassen. Das betonen Experten immer wieder. 2001 und 2006 hatte die damalige Bundesjustizministerin Brigitte Zypries bei Forschern und Experten den "Periodischen Sicherheitsbericht" in Auftrag gegeben. Noch heute gelten die Berichte unter Fachleuten als Meilensteine bei der Abbildung der tatsächlichen Kriminalität.

CDU, CSU und SPD haben in ihrem Koalitionsvertrag vereinbart, einen solchen Sicherheitsbericht wieder aufzulegen. Wann der erste Sicherheitsbericht vorliegen wird, ist noch unklar. Das Bundesinnenministerium teilte auf Anfrage des ARD-faktenfinder mit, aktuell würden "konzeptionelle Überlegungen zur Umsetzung des Vorhabens diskutiert". Eine Abstimmung mit dem ebenfalls zuständigen Justizministerium soll noch im laufenden Jahr erfolgen.