Pro-Israelische Gegendemonstranten halten ein Transparent mit der Aufschrift "Das Problem heißt: Antisemitismus".
Kontext

Angriff auf Israel Wie verbreitet ist Antisemitismus in Deutschland?

Stand: 23.10.2023 08:09 Uhr

Auf pro-palästinensischen Kundgebungen in Deutschland kommt es immer wieder zu antisemitischen Vorfällen. Studien zeigen, dass Antisemitismus in bestimmten migrantischen Kreisen weit verbreitet ist - ebenso wie in rechtsextremen.

Von Pascal Siggelkow, ARD-faktenfinder

Seit knapp zwei Wochen kommt es in deutschen Großstädten regelmäßig zu pro-palästinensischen Demonstrationen. Dabei wurden bislang auch immer wieder Sympathiebekundungen mit der militant-islamistischen Hamas und antisemitische Parolen vernommen. In Berlin wurde sogar eine Synagoge angegriffen.

Besonders Geflüchtete und Menschen mit Migrationshintergrund aus muslimischen Ländern stehen seitdem im Fokus: CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt sprach in der "Bild am Sonntag" von einem "importierten Antisemitismus und Hass auf Israel", der SPD-Vorsitzende Lars Klingbeil forderte, dass Asylsuchenden der deutsche Pass bei antisemitischer Einstellung verwehrt werden solle.

Wenig Studien zu Antisemitismus unter Migranten

Wie verbreitet antisemitische Einstellungen bei Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland sind, ist bislang noch wenig erforscht. Eine Studie des Sachverständigenrats für Integration und Migration (SVR) aus dem Jahr 2022 liefert jedoch einige Erkenntnisse. Untersucht wurde, inwieweit Menschen mit und ohne Migrationshintergrund in Deutschland antisemitischen Aussagen der drei verschiedenen Formen zustimmen.

Welche Formen von Antisemitismus gibt es?

In der Forschung wird Antisemitismus in der Regel in drei Formen gegliedert: klassischen, sekundären und israelbezogenen Antisemitismus. Der klassische Antisemitismus bezieht sich auf Jüdinnen und Juden als eine soziale Gruppe. Bezogen auf diese Gruppe bestehen manifeste Verschwörungserzählungen - wie die einer jüdischen "Weltverschwörung".

Der sekundäre Antisemitismus entstand nach dem Zweiten Weltkrieg. Diese Form von Antisemitismus dient häufig der Schuldabwehr: Sie spielt die Schuld der Deutschen am Holocaust herab oder wirft Jüdinnen und Juden vor, den Holocaust zu instrumentalisieren.

Bei israelbezogenem Antisemitismus werden Jüdinnen und Juden kollektiv für die Politik Israels verantwortlich gemacht. Dies wird als Motiv angeführt, um sie abzulehnen.

Unterteilt wurden die Menschen mit Migrationshintergrund dabei in folgende Gruppen: EU, Türkei, (Spät-)Aussiedler (deutsche Minderheiten aus den ehemaligen Republiken der Sowjetunion) und aus der "übrigen Welt".

Bei den klassisch antisemitischen Einstellungen stimmten Menschen mit einem türkischen Migrationshintergrund den beiden antisemitischen Aussagen "Juden haben auf der Welt zu viel Einfluss" und "Durch ihr Verhalten sind die Juden an ihren Verfolgungen nicht ganz unschuldig" insgesamt am häufigsten ganz oder eher zu. Auch Menschen mit Migrationshintergrund aus der "übrigen Welt" stimmten deutlich häufiger zu als Menschen ohne Migrationshintergrund.

Höhere Zustimmung bei israelbezogenem Antisemitismus

Beim sekundären Antisemitismus sind die Ergebnisse etwas schwieriger zu vergleichen, da sich die Aussagen explizit auf Deutschlands Verbrechen an Juden beziehen. "Die Fragen nach dem Schuldbewusstsein sind natürlich sehr speziell", sagt Marc Helbling, Professor für Soziologie mit Schwerpunkt Migration und Integration an der Universität Mannheim und Mitglied des SVR.

"Das ist schwer vergleichbar zwischen Deutschen mit und ohne Migrationshintergrund, weil die teilweise eine andere Sozialisierung diesbezüglich haben", so Helbling. "Besonders, wenn sie nicht in Deutschland zur Schule gegangen sind."

Beim israelbezogenen Antisemitismus stimmten 25,3 Prozent der Menschen ohne Migrationshintergrund der Aussage "Bei der Politik, die Israel macht, kann ich gut verstehen, dass man etwas gegen Juden hat" ganz oder eher zu. Bei den Menschen mit türkischem Migrationshintergrund waren es etwas mehr als die Hälfte und damit am meisten.

Herkunftsland wichtiger als Religion

Der Studie zufolge stimmten Menschen mit Migrationshintergrund zudem häufiger antisemitischen Einstellungen zu, wenn sie einer Religion angehören - die höchsten Zustimmungswerte gab es unter Muslimen. Allerdings spiele aus Sicht von Helbling dabei weniger die Religion als viel mehr das Herkunftsland eine Rolle.

"Die höheren Zustimmungswerte stammen vor allem von Muslimen aus Ländern, die geografisch oder politisch nah am Nahost-Konflikt sind", sagt Helbling. "Menschen mit Migrationshintergrund aus diesen Ländern sind unabhängig von der Konfession stärker antisemitisch geprägt, vor allem wenn sie dort sozialisiert worden."

Dass die Religion nicht der entscheidende Faktor ist, zeigt nach Angaben der Anti-Diffamierungs-Liga (ADL) beispielsweise, dass Christen im überwiegend muslimischen Libanon häufiger antisemitisch eingestellt seien als etwa Muslime in Bosnien und Herzegowina.

In Deutschland gibt es der Studie des SVR zufolge bei Menschen ohne Migrationshintergrund keine größeren Unterschiede zwischen den einzelnen Konfessionen, was ebenfalls dafür spricht, dass bei Antisemitismus die Sozialisierung eine größere Rolle spielt als die Religionszugehörigkeit. Zudem stimmten insgesamt deutlich weniger Menschen mit Migrationshintergrund antisemitischen Einstellungen zu, wenn sie in Deutschland zur Schule gegangen sind.

Auch eine Studie der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS) kommt zu dem Ergebnis, dass Deutsche mit Migrationshintergrund und Ausländer leicht erhöhte Zustimmungswerte zu antisemitischen Einstellungen im Vergleich zu Deutschen ohne Migrationshintergrund aufweisen. Zudem vertreten demnach Muslime mit Migrationshintergrund häufiger antisemitische Einstellungen als andere Befragte mit Migrationshintergrund.

Antisemitismus unter Rechtsextremisten weit verbreitet

Antisemitische Einstellungen finden sich der KAS-Studie zufolge zudem verstärkt bei Menschen mit links- und rechtsextremistischen Einstellungen - vor allem bei letzteren. Menschen mit einer Nähe zu rechtsextremistischen Einstellungen wiesen demnach "signifikant häufiger antisemitische Einstellungen auf". Etwa jede sechste Person mit der Tendenz zu rechtsextremistischen Einstellungen zeige ebenfalls eine Neigung zu antisemitischen Einstellungen.

Bei Menschen mit einer Nähe zu linksextremistischen Einstellungen fällt die Zustimmung zu antisemitischen Aussagen ebenfalls höher aus - jeder zwölfte stimmte den Aussagen zumindest teilweise zu.

Auch andere Studien wie die Leipziger Autoritarismus-Studie der Universität Leipzig und die Mitte-Studie der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) zeigen einen deutlichen Zusammenhang zwischen rechtsextremen Einstellungen und Antisemitismus. Jede der drei Antisemitismusformen erhielten laut der Autoritarismus-Studie aus dem Rechtsaußen-Spektrum mindestens 30 Prozent Zustimmung.

Mehr Zustimmung unter AfD-Wählern

Mit Blick auf die Parteipräferenzen ergibt sich ein ähnliches Bild: Mehrere Studien kommen zu dem Ergebnis, dass antisemitische Einstellungen bei AfD-Wählern weiter verbreitet sind als bei den anderen im Bundestag vertretenen Parteien. Der Autoritarismus-Studie zufolge liegen die Zustimmungswerte für antisemitische Aussagen bei 17,7 Prozent, dahinter folgen Anhänger der Linkspartei mit 5,4 Prozent.

Die Studie der FES kommt auf elf Prozent Zustimmung für antisemitische Einstellungen bei AfD-Wählern, nur FDP-Wähler liegen demnach mit 11,5 Prozent knapp davor. In der Studie der KAS wiederum liegen die Zustimmungswerte der AfD-Wähler bei sechs Prozent, während der Bevölkerungsschnitt mit etwa zwei Prozent beziffert wird.

Dass es in der Forschung zu Einstellungen zum Teil größere Unterschiede gibt, hat nach Ansicht von Helbling vor allem mit der Fragestellung zu tun. "Man kann unterschiedliche Fragen stellen - und unterschiedliche Fragen führen zu unterschiedlichen Antworten." Es gebe verschiedene Ansichten davon, welche Fragen die einzelnen Formen des Antisemitismus am besten abbilden würden. "Wir können nicht in die Köpfe der Menschen schauen, sondern wir müssen Fragen stellen, die uns Auskunft darüber geben, wie die Menschen denken. Und genau das ist eine wissenschaftliche Herausforderung."

Eine aktuelle Umfrage im Auftrag der Nichtregierungsorganisation European Leadership Network (ELNET) zeigt mit Blick auf israelbezogenen Antisemitismus ebenfalls höhere Zustimmungswerte bei Wählern der Linkspartei und der AfD. Demnach bewerten sie die Rolle der militant-islamistischen Hamas deutlich weniger negativ als Wähler der anderen im Bundestag vertretenen Parteien. Auch dass die Sicherheit Israels deutsche Staatsräson sei, lehnen sie deutlich häufiger ab.

Antisemitische Straftaten überwiegend von rechts

Antisemitische Straftaten werden nach Angaben des Bundesinnenministeriums hauptsächlich aus dem rechtsextremen Spektrum begangen. Im Jahr 2022 gab es demnach 2.641 antisemitische Straftaten, von denen mehr als 80 Prozent dem rechten Spektrum zugeordnet wurden. Allerdings gibt es an der Kategorisierung der Straftaten bereits seit Jahren Kritik. Nach Angaben der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" will Bundesinnenministerin Nancy Faeser die Daten daher zukünftig differenzierter erfassen.

Um Antisemitismus zu bekämpfen, sei vor allem Bildungsarbeit gefragt, sagt Helbling. "Bildung und Aufklärung spielen eine wichtige Rolle, um antisemitischen Einstellungen entgegenzuwirken."

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Deutschlandfunk am 21. Oktober 2023 um 09:26 Uhr.