Teilnehmer einer Demonstration verbrennen am 10.12.2017 eine Fahne mit einem Davidstern in Berlin im Stadtteil Neukölln. (Quelle: Jüdisches Forum für Demokratie und gegen Antisemitismus e.V./dpa)

Antisemitische Straftaten Sind die Statistiken irreführend?

Stand: 26.04.2018 08:24 Uhr

Wie viele antisemitische Straftaten werden in Deutschland verübt? Und von wem? Die vorliegenden Statistiken weisen Schwächen auf. Kritiker meinen sogar, sie seien irreführend.

Von Andrej Reisin, NDR

Laut der vom Bundeskriminalamt jährlich veröffentlichten Statistik "Politisch Motivierte Kriminalität" (PMK) wurden im Berichtsjahr 2016 (die Zahlen für 2017 werden im Mai vorgestellt) bundesweit 1468 antisemitische Straftaten begangen. 1381 davon ordnete die Polizei Tätern mit politisch rechter Motivation zu, was gut 94 Prozent entspricht. Demnach wäre antisemitische Hasskriminalität nahezu vollständig ein Problem rechtsradikaler Tätergruppen.

Demgegenüber steht eine Zahl, die der Studie "Jüdische Perspektiven auf Antisemitismus in Deutschland" entstammt, die am Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld erstellt wurde. Dort gaben Opfer von antisemitischen Gewaltdelikten zu 81 Prozent an, dass die mutmaßlichen Täter einer "muslimischen Gruppe" angehört hätten.

Zahlen widersprechen einander

Diese beiden Zahlen stehen sich in der Debatte über Antisemitismus in Deutschland nahezu diametral gegenüber. Doch beide sind keinesfalls so belastbar, wie es zunächst den Anschein haben mag. Die Probleme der Statistik "Politische Motivierte Kriminalität" (PMK), die ein Sonderbericht zur Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) ist, sind bekannt: Der vom Bundestag eingesetzte "Unabhängige Expertenkreis Antisemitismus", der auch die Bielefelder Studie beauftragt hatte, urteilt über die Probleme bei der polizeilichen Erfassung antisemitischer Straftaten folgendermaßen:

Man darf […] die Zahlen der PMK-Statistik nicht als Abbild der Realität missverstehen, vielmehr ist aufgrund des Aufbaus des PMK-Erfassungssystems und der Routinen der polizeilichen Erhebungspraxis mit einer systematischen Unterschätzung antisemitischer Vorfälle zu rechnen.

Dies hat verschiedene Gründe; der wichtigste ist, dass die Polizei nur über Taten berichten kann, die ihr bekannt werden. Es wird aber nicht jede antisemitische Beleidigung oder andere Straftat angezeigt oder von der Polizei selbst beobachtet und zur Anzeige gebracht. Wie bei jeder anderen Kriminalitätsform gibt es ein "Dunkelfeld", das nie Gegenstand polizeilicher Ermittlungen wird, weil diese nichts davon erfährt.

Probleme bei der Erfassung

Aber auch wenn entsprechende Straftaten zur Anzeige gebracht werden, tut sich die Polizei bisweilen schwer mit deren Einordnung. Im Fall rechtsmotivierter Straftaten kommen Behörden und Nicht-Regierungs-Organisationen häufig zu anderen Ergebnissen. So haben die unterschiedlichen Zahlen bei Tötungsdelikten mit politisch rechter Motivation in mehreren Bundesländern bereits zur Nachprüfung von umstrittenen Delikten geführt.

Viele dieser Probleme betreffen die PKS insgesamt, weswegen sie von Kriminologen und dem Bund Deutscher Kriminalbeamter (BDK) kritisiert wird. Für den BDK ist die PKS "kein getreues Spiegelbild der Kriminalitätswirklichkeit, sondern eine je nach Deliktsart mehr oder weniger starke Annäherung an die Realität. Die PKS ist lediglich eine Strichliste, ein Arbeitsnachweis ohne inhaltliche Bewertung des zeitlichen und ermittlungstaktischen Aufwands."

Experten betonen zudem, dass die PMK-Statistik im Gegensatz zur Polizeilichen Kriminalstatistik eine Eingangsstatistik sei. Das heißt, sie enthält alle Verdachtsfälle, bei denen die Polizei einen politischen Hintergrund vermutet, während die PKS im Gegensatz dazu nur Fälle enthält, bei der die Polizei einen Täter ermittelt hat. Dies kann zu Verzerrungen führen.

Kritik an offiziellen Zahlen

Deidre Berger und Fabian Weißbarth vom American Jewish Committee (AJC) in Berlin kritisieren im "Tagesspiegel", dass "eine Parole wie 'Juden raus' fast ausschließlich dem Rechtsextremismus zugeordnet wird, obgleich man über die Hintergründe nur wenig weiß". Vorfälle mit NS-Bezug seien statistisch fast immer rechts, was dazu geführt habe, dass selbst "ein Hitlergruß von Hisbollah-Anhängern auf der islamistischen Al-Quds-Demo als rechtsextrem eingruppiert" worden sei.

Die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) in Berlin kommt dann auch zu deutlich anderen Zahlen als die offiziellen Stellen: Ihr Bericht "Antisemitische Vorfälle 2017" weist allein für Berlin insgesamt 947 Delikte auf. Darunter sind 18 Angriffe, 23 Bedrohungen, 42 Sachbeschädigungen, 679 Fälle verletzenden Verhaltens (davon 325 online) sowie 185 weitere Propaganda-Vorfälle. RIAS dokumentiert auch Fälle, die entweder strafrechtlich nicht relevant sind oder bei denen die Opfer keine Anzeige erstattet haben.

In diesen unterschiedlichen Zählweisen liegt wiederum ein Problem, auf das der Bericht des "Unabhängige Expertenkreis Antisemitismus" hinweist: Anders als im Rahmen der staatlichen Erfassung von Straftaten, die - bei allen Mängeln - einer Systematik folgt, liegen dem Vorgehen der NGOs […] keine systematischen einheitlichen Kriterien zugrunde. Daher erscheinen die PMK-Zahlen bisher "als einzige 'belastbare' Statistik zum Ausmaß derjenigen antisemitischen Phänomene, die justiziabel sind".

Klar ist: Im Schnitt mindestens vier Mal am Tag kommt es in Deutschland zu einem antisemitischen Vorfall, die Dunkelziffer dürfte weit darüber liegen. Der Antisemitismus musste keinesfalls erst nach Deutschland "importiert" werden, sondern ist seit Jahrhunderten virulent - mit dem Menschheitsverbrechen der Ermordung von sechs Millionen europäischen Jüdinnen und Juden als traurigem Höhepunkt. Doch einige der neu zugewanderten Gruppen zeigen laut Untersuchungen eine erhebliche Neigung zu Antisemitismus und antisemitischer Gewalt.

Begrenzte Aussagekraft

Doch die statistische Aussagekraft von 81 Prozent mutmaßlich muslimischen Tätern, die in der Bielefelder Studie von Gewalt-Opfern angegeben wurde, ist begrenzt. So merkten die Forscher selbst an:

So kreuzten Befragte Beschreibungen an, die sich logisch ausschließen (z.B. Einzelperson, Jugendlicher und Erwachsener). Möglicherweise wurde hier also von einigen Befragten an mehrere Vorfälle gleichzeitig gedacht. Daher müssen die im Folgenden dargestellten Verteilungen mit einer gewissen Vorsicht betrachtet werden, wenngleich sie Tendenzen im Abbild der Erfahrungen der Befragten darstellen. […] Der deutsch aussehende Nachbar oder die deutsche Arbeitskollegin wird vermutlich eher als Nachbar bzw. Arbeitskollegin und nicht als christliche Person beschrieben, wohingegen ein Nachbar bzw. eine Arbeitskollegin, der oder die muslimisch ist oder vermeintlich so aussieht, eher als muslimische Person beschrieben wird. Dies kann hier zu Verzerrungen führen.

Hinzu kommt, dass Mehrfachnennungen hinsichtlich der Tätergruppen möglich waren. Insgesamt bot die Studie den Teilnehmern die Auswahl aus 13 unterschiedlichen Kategorien zur Einordnung der Täter. Doch allein die Addition der vorgegebenen fünf Kategorien "unbekannte, linksextreme, rechtsextreme, muslimische oder christliche Person/Gruppe" ergibt 169 Prozent.

Zudem berichteten "nur" 16 Befragte überhaupt von Gewalttaten. Dies mindert nicht die Tendenz in der Einschätzung der Betroffenen, aber damit lässt sich kaum belegen, dass 81 Prozent der antisemitischen Gewalttaten in Deutschland von Muslimen begangen werden, wie es in der Debatte teilweise geschieht.

Experten fordern bessere Erfassung

Der Expertenkreis Antisemitismus empfiehlt daher, die Erfassung von antisemtischen Delikten zu verbessern. So sollten Polizei und Justiz mit NGOs und anderen Organisationen kooperieren, um ein möglichst realistisches Bild der antisemitischen Straftaten in Deutschland schaffen zu können.