Menschen in Kiew suchen Schutz in einer U-Bahn-Station.

Ukraine Gedrückte Stimmung vor dem Jahreswechsel

Stand: 31.12.2023 11:37 Uhr

2023 sollte für die Ukraine das Jahr des Sieges werden, doch der russische Angriffskrieg nimmt kein Ende. Russland hat seine Angriffe verstärkt, westliche Verbündete zeigen sich kriegsmüde, und auch innenpolitische Debatten nehmen zu.

Von Andrea Beer, ARD Kiew

Valeria Gubenko hat zwei Heimatländer und ist auf dem Sprung. Sie steht vor der zentralen Synagoge in Kiew, will gleich noch zu ihrer Familie nach Dnipro und dann zurück in die Nähe von Tel Aviv. Nach dem russischen Großangriff vor fast zwei Jahren ging die junge Floristin nach Israel und baute sich dort ein Leben auf.

Sie floh vor dem russischen Angriffskrieg und erlebte am 7. Oktober 2023 den Hamas-Angriff hautnah mit. Ihre Schwester weckte sie und sagte, ein Krieg habe begonnen. "Ich hätte nie gedacht, dass ich in meinem Leben zwei Großangriffe erleben würde. Ich sagte erst, 'Na ja, jetzt schießen sie und das war's', aber dann habe ich gemerkt, dass dies nicht ein weiterer Konflikt ist, sondern ein Krieg."

Valeria Gubenko

Valeria Gubenko wünscht sich Frieden und Sicherheit in ihren beiden Heimatländern Ukraine und Israel.

Massive russische Luftangriffe vor dem Jahreswechsel

Für den Teil ihrer Familie in der Ukraine ging unterdessen der russische Angriffskrieg weiter. Zum Jahresende setzte Moskau mit den bisher landesweit schlimmsten Luftangriffen seit dem Beginn der Großinvasion eine weitere blutige Zäsur. Mindestens 39 Menschen seien getötet und rund 160 verletzt worden, schrieb Präsident Wolodymyr Selenskyj am Samstag auf Telegram. Fast 120 Dörfer und Städte wurden angegriffen.

Großstädter wie Taras Pylnik Schumylo aus Kiew suchten Schutz in Metrostationen. "Uns ist klar, dass wir den Jahreswechsel vielleicht in der Metrostation begehen müssen und nicht zuhause", sagt er. "Aber all das ist kein Vergleich mit den Bedingungen unserer Soldaten, die kämpfen müssen."

"Kein Steine, sondern lebende Freunde"

2023 sollte laut Präsident Selenskyj das Jahr des Sieges werden, doch es kam anders. Die ukrainische Gegenoffensive erfüllte die hohen Erwartungen nicht. Erschöpfte Soldatinnen und Soldaten fordern mehr Rotation an der Front und weniger erdrückende Armee-Bürokratie, beispielsweise nach Verwundungen. Zudem tobt vielerorts ein erbitterter innenpolitischer Streit darüber, ob bestimmte Steuern an das Militär fließen oder für kommunale Zwecke verwendet werden sollen.

Vor dem Rathaus in Kiew gab es 2023 immer wieder Proteste und kleine Mahnwachen gegen Bauvorhaben oder die Reparatur von Straßen, solange die ukrainische Armee nicht ausreichend Ausrüstung hat. "Ich will keine Steine, sondern lebende Freunde", hielt ein junger Mann ein Pappschild in die Höhe.

Vier Menschen halten vor dem Kiewer Rathaus Protestplakate hoch.

Immer wieder wird vor dem Kiewer Rathaus für eine bessere Ausrüstung der Armee protestiert.

Gesellschaft wünscht sich innenpolitische Debatten

Nationale Einheit sei die Basis für den Widerstand gegen Russland geworden, betont Wolodymyr Nahirny vom Institut für Strategische Studien in Kiew. Meinungsumfragen würden aber zeigen, dass die ohnehin diskussionsfreudige ukrainische Gesellschaft mehr innenpolitische Debatten führen wolle, so der Politologe.

"Viele Probleme, die zu Beginn der russischen Großaggression nicht gelöst waren, werden immer dringlicher, und wir haben auch neue Probleme", erklärt Nahirny. "Es ist notwendig, der Innenpolitik Aufmerksamkeit zu schenken. Auch für unsere westlichen Partner sind innenpolitische Fragen wichtig, wenn es darum geht, die Ukraine weiterhin zu unterstützen."

Das gilt etwa für Reformen im Bereich der Justiz und der Korruptionsbekämpfung im Rahmen der EU-Beitrittsverhandlungen. Deren Beginn im Dezember 2023 wertet die ukrainische Führung als großen Erfolg, doch die - auch von einer Mehrheit der Bevölkerung - ersehnte offizielle Einladung in die NATO blieb auf dem Gipfel in Vilnius aus.

Keine Verhandlungen mit Russland

Kiew bleibt auch 2024 auf die finanzielle und militärische Unterstützung der Partner angewiesen. Mit Sorge blicken viele auf den innenpolitischen Machtkampf in den USA zwischen Demokraten und Republikanern, wo Letztere dringend benötigte Milliardenunterstützung für die Ukraine bisher blockieren. Auch langfristige vertragliche Zusagen für die nächsten Kriegsjahre oder Jahrzehnte kamen bisher nicht zustande.

Stattdessen fragen die USA und europäische Länder nun immer öfter, wie lange der Krieg denn noch dauern würde, kritisiert Politologe Nahirny. "Sie ignorieren dabei weitgehend, dass dies nicht nur ein Krieg gegen die Ukraine ist, sondern gegen die gesamte westliche Welt", sagt er.

Es gebe bereits Überlegungen, mit Russlands Präsident Wladimir Putin zu verhandeln. "Die ukrainische Position ist, dass dies nicht funktionieren kann - zumal Putin das gar nicht will. Seine Ziele sind gleich geblieben."

Heirat wegen Fronteinsatzes

Putin will die Ukraine als Staat und Nation vernichten. Das sagt er ganz unverhüllt und hat es oft öffentlich wiederholt. Und so war 2023 auch für Maryja Iwaniwna kein gutes Jahr, wie sie sagt. Der russische Angriffskrieg mache ihr zu schaffen, aber auch hohe Lebenshaltungskosten, so die Rentnerin, die auf einer Parkbank in Lwiw sitzt. Besondere Erwartungen an 2024 habe sie nicht, sagt die 85-Jährige, sie erwarte höchstens ihren Übergang in die andere Welt.

Auch für Nadija und Ihor aus Lwiw war das vergangene Jahr schwierig. Allerdings gab es einen besonders schönen Moment, sagt Nadija lächelnd, denn sie hätten vor einer halben Stunde geheiratet. "Wir haben geheiratet, weil Krieg herrscht und ich an der Front bin und alles passieren kann", ergänzt Ihor. "Das ist mir 2023 wichtig. 2024 rückt dann der Moment näher, in dem wir gewinnen. Da bin ich mir sicher."

Rentnerin Marija Iwaniwna aus Lwiv.

Rentner wie Maryja Iwaniwna leiden besonders unter hohen Lebenshaltungskosten.

Ukrainische Vorbedingungen für Verhandlungen bekannt

Die Ukraine bleibt auch 2024 bei den bekannten Vorbedingungen für mögliche Verhandlungen mit Russland. Dazu gehört unter anderem der Abzug aller russischen Truppen aus den russisch besetzten Gebieten der Ukraine und das Wiederherstellen der Grenzen von 1991 sowie ein Sondertribunal für russische Kriegsverbrechen in der Ukraine und das Freilassen ukrainischer Kriegsgefangener und Zivilisten.

Die ukrainische Führung strebt weiter einen internationalen Friedensgipfel an. Im August 2023 gab es dazu in Saudi-Arabien eine Vorbereitungskonferenz auf Ebene nationaler Sicherheitsberater, an der rund 40 Länder teilnahmen.

Frieden, verlässliche Sicherheit und Stabilität. Das wünscht sich die ausgewanderte jüdische Ukrainerin Valeria Gubenko. 2024 will sie weiter pendeln zwischen ihren zwei Heimatländern im Krieg. "Ich sehe meine Zukunft in beiden Ländern - in der Ukraine und in Israel."

Andrea Beer, ARD Kiew, tagesschau, 31.12.2023 10:27 Uhr

Dieses Thema im Programm: Dieser Beitrag lief am 31. Dezember 2023 um 12:12 Uhr auf Deutschlandfunk Kultur.