Marine Le Pen

EU-Perspektive auf Le Pen Die Albtraum-Kandidatin

Stand: 23.04.2022 14:45 Uhr

Vor der Frankreich-Wahl ist die Sorge in Brüssel vor einer rechtsextremen Präsidentin Le Pen groß. Nicht nur ihre Nähe zu Moskau bereitet Sorge - auch in anderen Punkten sehen Beobachter die Einigkeit der Union in Gefahr.

So richtig vorstellen kann man sich das in Brüssel noch nicht. Eine rechtsextreme Präsidentin der französischen Republik am Tisch beim Gipfel der Staats- und Regierungschefs. Im Europaviertel zwischen Parlament, Kommission und Ratsgebäude wird das als extreme Belastungsprobe für die Union gesehen: in einer Situation, in der der Krieg gegen die Ukraine alle diplomatischen Energien erfordert, in der die Bemühungen der Union auf das eine Ziel gerichtet sind, Geschlossenheit zu demonstrieren. In solch einer Situation ist Le Pen für die EU-Spitzen die Albtraum-Kandidatin.

Einmischung in nationale Wahlen war bisher ein Tabu in der EU. Bundeskanzler Olaf Scholz und seine Amtskollegen aus Spanien und Portugal setzten sich in dieser Woche darüber hinweg. In einem beispiellosen Appell in "Le Monde" wandten die drei Regierungschefs sich an die Franzosen: Sie hätten jetzt die Wahl zwischen einem demokratischen Kandidaten und einer "Kandidatin der extremen Rechten, die sich offen mit denen solidarisiert, die unsere Freiheit und Demokratie angreifen". Fraglich, welchen Einfluss ein solcher Hinweis aus dem Ausland auf die Wähler hat. Er zeigt eher die Dramatik der Situation. 

Belastungsprobe für die EU?

In den europapolitischen Denkfabriken fürchtet man eine extreme Belastungsprobe für die Union. "Putin hätte in Le Pen als Präsidentin definitiv eine Verbündete mitten in Europa", sagt Yann Wernert, Policy Fellow für deutsch-französische Beziehungen am Jacques Delors Centre. Beide pflegten seit Jahren enge Kontakte, wiederholt sei Le Pen in Moskau mit großem Pomp empfangen worden. "Sie hat immer den russischen Kurs verteidigt, den militärischen Einmarsch in der Krim verneint, die Annexion später gut geheißen." Le Pen spricht nicht vom russischen Angriffskrieg, sie sagt "la guerre russo-ukrainienne", der russisch-ukrainische Krieg, das klingt neutraler.

Für die Zeit nach dem Krieg fordert sie eine "strategische Annäherung" der NATO an Russland, das sei im Interesse Frankreichs und Europas "und sogar im Interesse der USA". Im Brüsseler Hauptquartier der Allianz sieht man das anders. Und nimmt kommentarlos zur Kenntnis, wenn Le Pen gleichzeitig ankündigt, als Präsidentin dafür zu sorgen, dass französische Truppen nicht mehr unter einen integrierten Oberbefehl gestellt werden - weder unter das Kommando der NATO noch der Europäer. Frankreich sei keine Mittelmacht, erklärt sie, sondern "eine Großmacht, die noch etwas zählt“.

Was sich nach nationalen Phantasien und Selbstüberschätzung anhört, wird in Brüssel ernst genommen. Frankreich ist Atommacht und nach dem Brexit einziges EU-Land mit ständigem Sitz im UN-Sicherheitsrat. Diese französische Sonderstellung bekäme durch Le Pens Nähe zu Putin eine neue, gefährliche Dimension. Kritiker sehen auch eine finanzielle Abhängigkeit. Der Neun-Millionen-Euro-Kredit einer staatlichen russischen Bank, eingefädelt von Putin, muss noch bis 2028 abbezahlt werden, darauf weist der Politikwissenschaftler Yann Wernert hin.

Neue Allianzen befürchtet

Auch im Inneren der EU drohen mit einem Wahlsieg von Marine Le Pen neue Allianzen. Zentrale Punkte ihres Wahlprogramms stehen in Widerspruch zum europäischen Recht. Die Ungleichbehandlung von Bürgern, die nicht französische Staatsbürger sind, zum Beispiel. Dazu ein grundsätzliches Nein zum Vorrang des Europarechts vor dem nationalen Recht der Mitgliedsstaaten. Wortgleich sagen das auch die Regierungen von Polen und Ungarn - ohne dass die Brüsseler EU-Kommission das bisher in jahrelangen Rechtsstreitigkeiten hätte unterbinden können. "Le Pen würde das Lager der illiberalen Demokraten verstärken", sagt Wernert vom Jacques Delors Centre voraus. "Orban hofiert sie und sie hofiert Orban." Auch hier hat sich das gute Verhältnis schon finanziell ausgezahlt. Mehr als zehn Millionen Euro Wahlkampfhilfe bekam Le Pen von einer ungarischen Bank, die dem Milliardär Lörinc Mészáros, mitgehört - ein Jugendfreund von Victor Orban.

Bisher kamen die Angriffe gegen Europas Rechtssystem aus Budapest, Warschau und den Hauptstädten einiger kleinerer osteuropäischer Länder. Sollte es auch Paris eine Regierung bekommen, die auf Konfrontationskurs gegen Brüssel geht, die die Institutionen lähmt und französisches Recht über Europarecht stellt, dann hätte das eine andere Qualität. Frankreich ist die zweitgrößte Volkswirtschaft in der EU und Frankreich ist Nettozahler - zahlt also mehr in den Gemeinschaftshaushalt ein, als es von dort zurückbekommt. Für die EU-Kommission wäre es noch schwieriger, ihre Rolle als Hüterin der Europäischen Verträge zu wahren - gegen eine von Frankreich angeführte Allianz von Mitgliedern, die an den Säulen des europäischen Rechtssystems rütteln.

Macron auf europäischer Ebene mit Erfolgen

Nicht wenige in Brüssel fragen sich, wie die EU-Gegnerin Le Pen zu einer ernsthaften Gefahr für den überzeugten Europäer Macron werden konnte. Mit mehr Chancen noch als 2017, als sie schon einmal in die Stichwahl kam. Macron hat in seiner Amtszeit mehr ureigene französische Ziele in der EU durchsetzen können, als alle seine Vorgänger. Gemeinsame Schulden für die Finanzierung des Corona-Aufbaufonds - ein Erfolg, errungen nach jahrelangem Widerstand von Bundeskanzlerin Angela Merkel.

Das grüne Nachhaltigkeitssiegel für die Atomenergie, ein Geniestreich, den weder Umweltorganisationen noch die Betreiber der Atommeiler selbst für möglich gehalten hatten. Und die Besetzung wichtiger Schlüsselpositionen - von Ursula von der Leyen, die ihr Amt als Kommissionspräsidentin Macrons Schachzügen verdankt über Ratspräsident Charles Michel, dem Parteifreund, bis zur Besetzung der EZB-Spitze mit der Französin Christine Lagarde. Deshalb sei die Wahl am Sonntag, so ein EU-Diplomat, eben nicht nur eine Richtungsentscheidung für Frankreich, sondern für die Zukunft der Europäischen Union.

Helga Schmidt, 23.04.2022 14:09 Uhr

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Deutschlandfunk am 23. April 2022 um 08:15 Uhr.