Ein Mann schiebt einen anderen Mann im Rollstuhl vor einem Panzer in der Ukraine
reportage

Versehrte Soldaten in der Ukraine Erst verletzt, dann isoliert

Stand: 09.09.2023 11:41 Uhr

Kaum Rampen oder Aufzüge, viele Schlaglöcher und Treppen - Ukrainer im Rollstuhl können sich kaum frei bewegen. Um Barrierefreiheit hat sich das Land bisher wenig gekümmert. Nun leiden auch versehrte Soldaten darunter.

Von Rebecca Barth, ARD Kiew

Noch nie zuvor in ihrer Geschichte hatte es die unabhängige Ukraine mit so vielen Menschen mit Behinderung zu tun. Nicht nur Soldaten, auch Zivilisten verlieren im russischen Angriffskrieg Beine, Arme oder erleiden lähmende Rückenmarksverletzungen.

"Der russische Angriffskrieg hat uns gezeigt, dass wir nicht vorbereitet waren", sagt Uljana Ptscholkina von der Organisation Active Rehabilitation Group. Sie kämpft seit Jahren für Barrierefreiheit in einem Land voller Hindernisse, wie sie sagt.

Ein Bewusstsein für die Bedürfnisse von Menschen im Rollstuhl gebe es in der Gesellschaft nicht, sagt auch der Soldat Oleksandr Tschumak. Seitdem der 33-Jährige vor etwa einem Jahr bei der Rückeroberung von Cherson auf eine Mine gefahren ist, ist er gefangen in seiner Wohnung. Das rechte Bein musste amputiert werden, das linke ist so schwer verletzt, dass er es aktuell nicht belasten kann. Nach Monaten im Krankenhaus schleppt er sich nun auf Händen von der Küche durch den schmalen Flur ins Wohnzimmer.

Keine Aufzüge, viele Treppen, unebene Gehwege

"Die einzige Verbindung zur Außenwelt ist der Fernseher oder das Internet", sagt Tschumak. In dem altem Wohngebäude gibt es keinen Aufzug. Die Türen und der Flur sind zu schmal für einen Rollstuhl. Es ist ein typisches Bild in der Ukraine, das sich auf den Straßen der Hauptstadt fortsetzt.

Nur wenige Metrostationen verfügen über Aufzüge. Viele öffentliche Gebäude sind nur über eine Treppe zugänglich, Restaurants und Bars liegen nicht selten im Untergeschoss. Gelähmte oder Menschen mit Amputationen müssen im Alltag immer wieder kleine Stufen, hohe Bordsteine oder von Schlaglöchern überzogene Gehwege passieren.

Kriegsversehrte Ukrainer in einem Krankenhaus

Wie viele Menschen mit Behinderungen es seit der russischen Invasion in der Ukraine gibt, ist unklar.

Schutzkeller oft nicht barrierefrei

Die Gesellschaft versucht jetzt, auf das Problem zu reagieren, berichtet Tschumak. Einige Geschäfte bringen Rampen für Rollstuhlfahrer an, aber die seien oft "Schrott", kritisiert der Soldat. "Das ist, als würdest du Achterbahn fahren." Die Rampen seien so steil, dass er es aus eigener Kraft nicht hinauf schaffe. Seit der Verletzung hängt Tschumaks soziales Leben von einem Freund ab, der ihn aus der Wohnung ins Erdgeschoss trägt und ihn in den Supermarkt oder ins Krankenhaus fährt. Wie ihm geht es Tausenden in der Ukraine.

Laut der Dachorganisation European Disability Forum waren in der Ukraine vor Beginn des Krieges über 2,7 Millionen Menschen mit Behinderungen registriert. Wie viele Menschen es seit dem 24. Februar 2022 sind, ist nicht bekannt. Der Krieg habe Menschen mit Behinderungen unverhältnismäßig stark getroffen, kritisiert die Organisation. Viele Schutzkeller seien ebenfalls nicht barrierefrei - und somit ein "lebensgefährliches Hindernis". 

Bauvorschriften werden ignoriert

Obwohl der Krieg andauert, versucht die Ukraine bereits jetzt an einigen Stellen den Wiederaufbau. "Build Back Better" ist dabei oft das Motto - zumindest offiziell. Doch die Aktivistin Uljana Ptscholkina kritisiert, oft würden Bauvorschriften in der Praxis ignoriert. Denn eigentlich sollten zumindest Neubauten barrierefrei sein. "Aber es gibt keine Sanktionen bei Verstößen."

Nach acht Jahren Einsatz im Krieg und etlichen Monaten im Krankenhaus besteht Oleksandr Tschumaks Welt daher heute aus Schlafzimmer, Wohnzimmer und Küche. Immerhin hier kann er sich eigenständig bewegen. In der Küche sitzt er auf einem kleinen Hocker mit Rollen und fährt zwischen Tisch, Kühlschrank und Herd hin und her. Lebensmittel bestellt er online.

Gesellschaftliche Reintegration zentral

Tschumak versucht, seine Verletzungen zu akzeptieren. "Das wichtigste ist, dass ich wieder mobil und ein effektives Mitglied der Gesellschaft werde", sagt er. Gesellschaftliche Teilhabe spielt bei der Reintegration von Soldaten eine zentrale Rolle. Und Tschumak sagt, andere Kameraden habe es schlimmer getroffen. Manchen Soldaten in der Ukraine müssen sowohl beide Arme als auch Beine amputiert werden.

Aber auch für die Angehörigen seien derart schwere Verletzungen nicht leicht, sagt Tschumak. "Die Frauen heiraten einen jungen, coolen Mann und dann liegt er plötzlich da und füllt nur noch die Hälfte des Bettes aus."

In der Ukraine sind die Ärzte mit den Verletzungen von Tschumaks linkem Bein überfordert. Eine Hilfsorganisation unterstützt ihn dabei, in den USA behandelt werden zu können. Dort versuchen die Ärzte nun, das Bein zu retten. Aktuell schätzen sie die Chancen auf 60 Prozent ein, es erhalten zu können.

Rebecca Barth, ARD Kiew, tagesschau, 09.09.2023 14:24 Uhr

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Deutschlandfunk am 27. Juli 2023 um 07:50 Uhr.