Ärzte im Städtischen Krankenhaus Nummer 2 in Tschernihiw.
Reportage

Krankenhaus in Tschernihiw "Verletzungen, die wir vor dem Krieg nicht kannten"

Stand: 05.05.2022 11:27 Uhr

Im Krankenhaus von Tschernihiw liegen Patienten, die russische Luftangriffe überlebt haben und fürs Leben gezeichnet sind. Ein Arzt schildert seinen Alltag - und Wunden, auf die ihn das Studium nicht vorbereitete.

Ihor Handoga sehnt sich nach einer Pause. Es müsste gar nichts Großes sein, keine Reise - einfach mal ein paar Tage zu Hause, einen Kaffee in der Sonne trinken. "Seit Kriegsbeginn lebe ich mehr oder weniger im Krankenhaus", sagt der junge Mediziner. "Vor allem an Anfang haben wir Tag und Nacht operiert". Handoga arbeitet im Städtischen Krankenhaus Nummer 2 in der ukrainischen Stadt Tschernihiw, nahe der Grenze zu Belarus.

Beim Gang über die Flure erzählt der 34-Jährige, dass das Medizinstudium ihn nur bedingt vorbereitet habe auf das, was er in den vergangenen beiden Monaten erlebt hat. "Wir haben viele Verletzungen gesehen, die wir vor dem Krieg nicht kannten. Durch Minen etwa - an Beinen und Amen; schwere offene Brüche, Amputationen... einfach sehr große Wunden."

Theoretisch habe er natürlich gewusst, was zu tun ist, sagt er. Aber man müsse das psychologisch erst einmal schaffen, so konzentriert zu sein, dass man nur die anatomische Struktur sieht: Arterien, Venen, Bänder und Gewebe - und nicht diese schockierenden Wunden.

Ärzte am Limit: Reportage aus einem Krankenhaus in Tschernihiw

"Ich habe nur Schmerz gespürt"

Die 72-jährige Rentnerin Katja war auch nicht vorbereitet. Sie liegt im vierten Stock des Krankenhauses. An ihren Händen fehlt jeweils der kleine Finger. Und dann deckt sie die Bettdecke auf - auch der linke Unterschenkel ist amputiert. "Am 16. März stand ich in der Schlange, um Brot zu kaufen", erzählt sie. "Wir haben alle das Flugzeug nicht bemerkt. Und dann hat es uns getroffen. Ich habe nur Schmerz gespürt. Alle lagen am Boden."

Mehrere Menschen sind bei diesem Bombeneinschlag gestorben. Katja hatte vergleichsweise Glück. Traumatisch war es dennoch. Sie sah ihren Schienbeinknochen, viel Blut. Ein Taxifahrer habe sie zum Krankenhaus gefahren. Immer wieder habe er sie auf der Fahrt angesprochen. "Er wollte, dass ich bei Bewusstsein bleibe". Er fragte auch, wie sie heiße. "Er wollte einen Namen", sagt sie, "damit er weiß, wen er informieren kann, wenn ich in seinem Auto sterbe".

Süßlicher Wundgeruch in der Luft

Schicksale wie das von Katja gibt es viele in Tschernihiw. Die russischen Truppen haben sich nach dem gescheiterten Marsch auf Kiew zwar wieder über die Grenze nach Belarus zurückgezogen. Doch die Wunden des Krieges schmerzen und eitern hier noch lange.

Im Zimmer von Oleg liegt ein süßlicher Geruch in der Luft. Durch den Verband am Bein zeichnen sich grüne, gelbe und dunkelrot-braue Flecken ab. Oleg wurde ebenfalls bei einem Luftangriff verletzt: "Wir saßen bei Abendessen. Dann kamen die Bomben." Sein Sohn habe versucht, die Blutung mit "einem Zopf" aus Handtüchern zu stoppen. "Mir war gleich klar, dass ich verkrüppelt bin".

Dass russische Truppen jemals in seine Heimatstadt einrücken würden, daran habe er nie geglaubt - "nicht mal, als sie im Januar an der Grenze aufzogen". Und dann sei es doch passiert: "Sie bombardierten, brannten alles nieder. Von mir gibt es keine Vergebung - Gott wird sie richten."

Ihor Handoga arbeitet daran, dass Oleg sich zumindest wieder allein bewegen kann. In Kürze wird er ihn wieder operieren. Der Arzt ist optimistisch, dass Oleg es mit Krücken schaffen kann. Für die 72-jährige Katja ist das wohl nicht mehr möglich. "Ich liege hier im vierten Stock - allein werde ich nicht mehr nach draußen kommen", sagt sie. Aber immerhin: Einen Löffel könne sie schon wieder halten - auch ohne die kleinen Finger.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichteten die tagesthemen am 04. Mai 2022 um 22:15 Uhr.