Detail eines Abzeichens am Arm einer Uniform eines britischen Soldaten

"Taurus"-Abhöraffäre Was machen britische Kräfte in der Ukraine?

Stand: 05.03.2024 18:53 Uhr

Deutschland spricht darüber, Großbritannien unterstütze "am Boden" die Ukraine: Die Reaktionen schwanken zwischen Aufregung und demonstrativer Gelassenheit. Tatsächliche Informationen über die Aktivität der Briten sind dürftig.

"Es ist eine sehr weitreichende Waffe. Und das, was an Zielsteuerung und an Begleitung der Zielsteuerung vonseiten der Briten und Franzosen gemacht wird, kann in Deutschland nicht gemacht werden. Das weiß auch jeder, der sich mit diesem System auseinandergesetzt hat." Hat Bundeskanzler Olaf Scholz mit dieser Äußerung vom 26. Februar zweierlei eingestanden - einerseits indirekt, dass die Zielsteuerung vor Ort, also von ukrainischem Boden aus, vorgenommen werden muss, andererseits eine entsprechende Aktivität Großbritanniens und Frankreichs?

Die Aufregung in Teilen der Presse schlug jedenfalls zunächst hohe Wellen. Vergangenes Wochenende kam noch die Aussage des Luftwaffeninspekteurs Ingo Gerhartz aus der abgehörten Besprechung ranghoher Bundeswehroffiziere hinzu: "Wenn wir nach Liefermethoden (für Marschflugkörper, Anmerkung der Redaktion) gefragt werden, weiß ich, wie die Briten das machen. Sie transportieren sie immer in gepanzerten Ridgeback-Fahrzeugen. Sie haben mehrere Leute am Boden."

Empörung über das Datenleck

Während die Bundesregierung zerknirscht die Echtheit des Mitschnitts aus einem unzureichend verschlüsselten Webex-Gespräch einräumen musste und die Veröffentlichung als russischen Spaltungsversuch der NATO-Verbündeten herunterzukochen suchte, fielen die Reaktionen in Großbritannien geteilt aus.

Einerseits empörten sich vor allem frühere ranghohe Verteidigungsexperten. Der ehemalige Heereschef Richard Dannatt wetterte, niemand habe die Anwesenheit britischer Militärs in der Ukraine zu kommentieren. Die "Times" zitierte Ex-Verteidigungsminister Ben Wallace mit den Worten: "Wir wissen, dass Deutschland stark von russischen Geheimdiensten durchdrungen ist. Das zeigt, dass es weder sicher noch zuverlässig ist." Der konservative Abgeordnete Tobias Ellwood sagte BBC Radio 4, Scholz konzentriere sich offenbar zunehmend auf sein politisches Überleben und nicht mehr darauf, was für Europa am besten sei - zwischen Deutschland, Großbritannien und der NATO müsse es nun "ernste Gespräche" geben. Auch in Kommentaren britischer Medien ereiferten Politikjournalisten sich vor allem darüber, dass Deutschland ob seiner Indiskretion nicht zu trauen sei.

Die britische Regierung reagierte hingegen verhalten: Es sei an Deutschland, diesen Vorgang zu untersuchen, erklärte Premierminister Rishi Sunaks Sprecher am Montag - und ging damit demonstrativ nur auf das Datenleck ein, denn zur britischen Aktivität in der Ukraine habe man sich in der vorigen Woche schon geäußert.

Eine "geringe Anzahl von Kräften"

In der Tat hatte Sunaks Sprecher bereits am 27. Februar öffentlich gesagt: "Über die geringe Anzahl von Kräften, die wir zur Unterstützung der ukrainischen Streitkräfte im Land haben, haben wir keinerlei Pläne für einen großangelegten Militäreinsatz" - er hatte damit auf Frankreichs Präsident Emmanuel Macrons Fabulieren über einen Bodentruppen-Einsatz in der Ukraine reagiert.

Was es mit dieser "geringen Anzahl von Kräften" auf sich hat, darüber ist öffentlich nur wenig bekannt. Der "Guardian" berichtete im April 2023 über veröffentlichte Dokumente des US-Militärs, aus denen die Entsendung von bis zu 50 Spezialkräften aus Großbritannien in die Ukraine hervorgehen soll. Damals nahm das britische Verteidigungsministerium nicht Stellung zu den auf Discord veröffentlichten Dateien und wies lediglich daraufhin, diese enthielten ein gehöriges Maß an Ungenauigkeiten - überhaupt solle man nicht jeden Vorwurf wörtlich nehmen, hinter dem Desinformation stecken könne.

Schutz der britischen Botschaft

Im Dezember 2022 - also im Jahr der russischen Invasion in die Ukraine - sagte Robert Magowan, Generalleutnant bei den Royal Marines, britische Marineinfanteriesoldaten seien im besagten Jahr zwei Mal in der Ukraine gewesen: Zunächst im Januar, um das Botschaftspersonal aus Kiew zu bringen und später im April, um die Diplomaten und ihre Angestellten bei der Rückkehr zu schützen.

Damit stimmt die Aussage eines konservativen Abgeordneten vom April 2023 überein, die auf der Webseite des britischen Parlaments einsehbar ist: In der Ukraine seien britische Einsatzkräfte vor Ort, um die britische diplomatische Vertretung im Land zu unterstützen und die Streitkräfte der Ukraine zu schulen.

In einer im Juli 2023 veröffentlichten Mitteilung des Parlaments über die militärische Unterstützung für die Ukraine heißt es unter dem Punkt "Personaleinsatz" ebenfalls, man habe bereits im April 2022 die "Defence Section" der britischen Botschaft in Kiew wiedereröffnet - dazu zählen laut Text auch Sicherheitskräfte, um die Sicherheit der Defence Section zu gewährleisten, statt das Gastgeberland Ukraine damit zu belasten.

Ausbildungsmission "Orbital" läuft weiterhin

Weiter heißt es in der Stellungnahme des Parlaments: "Wir setzen unsere seit langem bestehende Operation 'Orbital' fort", die 2015 nach Russlands Annexion der Krim zur Ausbildung der ukrainischen Streitkräfte angelaufen war und die den Angaben nach bislang 22.000 Soldaten durchlaufen haben. Weiter heißt es: "Sie umfasst nun auch militärisches Sanitätspersonal, die die ukrainischen Sanitätskräften schulen und fördern. Aus einsatzbedingten Gründen, die dem Parlament wohlbekannt seien, mache man zur Anzahl oder zum Standort der entsandten Kräfte keine Angaben.

Somit gibt es bislang keine öffentlichen Einlassungen dazu, wie die Zusammenarbeit der Briten mit den ukrainischen Streitkräften rund um den Einsatz von "Storm Shadow"-Marschflugkörpern abläuft. Die Entscheidung, sie an die Ukraine zu liefern, fiel am 11. Mai. Am 6. Juli meldete die russische staatliche Agentur Tass, Teile eines über Saporischschja abgeschossenen "Storm Shadow"-Marschflugkörpers würden zur Untersuchung nach Moskau gebracht; einige Tage später warf Russland der Ukraine vor, mit einem "Storm Shadow"-Schlag ein Hotel in Berdjansk attackiert und einen General getötet zu haben. Zwischen der Bekanntgabe der Lieferung und dem ersten dokumentierten Einsatz von "Storm Shadow" sind also weniger als zwei Monate vergangen.

Unklar ist, ob ukrainische Streitkräfte womöglich bereits vor der offiziellen Regierungsentscheidung im Rahmen der in Großbritannien durchgeführten Militärtrainings gelernt hatten, mit "Storm Shadow" umzugehen, ob sie sich den Einsatz der Waffe binnen weniger Wochen in der Ukraine angeeignet haben oder ob britische Streitkräfte vor Ort eine aktive Rolle einnehmen - insbesondere letzteres wirft die heikle Frage auf, ob und inwieweit damit ein NATO-Mitgliedsstaat in aktive Kampfhandlungen verwickelt ist. Just darin besteht auch Scholz' Hauptargument gegen eine Lieferung von "Taurus" aus Deutschland, die er am Montag erneut bekräftigte: "Ich bin der Kanzler, und deshalb gilt das."

Erneute Liefer-Aufforderung an Scholz

Dass auch Deutschlands Verlässlichkeit im Militärbündnis weiterhin etwas gilt, darum bemüht sich derzeit Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius: Er habe am Montag mit den Amtskollegen der Verbündeten telefoniert und "keinerlei Anzeichen dafür wahrgenommen, dass man uns in irgendeiner Weise misstraut, und ich habe auch keine Verärgerung entgegengenommen", betonte er. Das Vertrauen in Deutschland sei ungebrochen.

Auch wenn die Wortmeldungen britischer Experten daran Zweifel lassen, sieht London zumindest öffentlich davon ab, Deutschland Geheimnisverrat an einem NATO-Verbündeten vorzuwerfen. Stattdessen schwenkte Sunaks Sprecher demonstrativ auf das Vertrauens-Thema ein - und nutzte die Gelegenheit, den Kanzler erneut zum Überdenken seiner "Taurus"-Entscheidung aufzufordern: Man werde weiterhin mit Deutschland zusammenarbeiten, um die Ukraine zu unterstützen. "Das Vereinigte Königreich war das erste Land, das der Ukraine Langstrecken-Präzisionsraketen zur Verfügung gestellt hat. Wir würden unsere Verbündeten ermutigen, dasselbe zu tun."