Das Satellitenbild zeigt russische Truppen bei Jelnja, Russland. (Archivbild: 01.11.2021)
Analyse

Russisch-ukrainische Grenze Was Moskaus Truppenaufmarsch bezweckt

Stand: 02.12.2021 04:13 Uhr

Seit Wochen beschäftigen den Westen russische Panzerbewegungen an der ukrainischen Grenze. Wie schon im April entsteht auch ein großes Militärlager. Beobachter rätseln: Wäre Putin bereit, in die Ukraine einzumarschieren?

Es begann mit Bildern in sozialen Netzwerken: Panzertransporter auf Eisenbahnwaggons Richtung Westen. Später tauchten Satellitenbilder auf, die ein russisches Militärlager bei Jelnija zeigen, einem kleinen Städtchen ein paar Stunden von der ukrainischen Grenze entfernt. Es erinnert an das Frühjahr dieses Jahres, als schon einmal Panzer des russischen Militärs durchs halbe Land an die ukrainische Grenze gefahren wurden. Damals folgte Mitte Juni ein Treffen zwischen Russlands Präsident Wladimir Putin und US-Präsident Joe Biden. Wenig später schien die Bedrohung wieder vorbei.

Jetzt scheint sich das Spiel zu wiederholen - doch die Spirale der Drohungen ist um einige Umdrehungen weiter gedreht worden. Besonders problematisch: Die NATO und Russland sprechen offiziell nicht mehr direkt miteinander. Anfang Oktober entzog die NATO acht russischen Diplomaten die Akkreditierung und reduzierte die russische Vertretung bei der NATO um die Hälfte. Die Betroffenen arbeiteten für den russischen Geheimdienst, erklärte damals die NATO. Daraufhin setzte Russland die Arbeit seiner Mission bei der NATO ganz aus und suspendierte seinerseits die NATO-Militärmission in Moskau.

Hinzu kommt ein eklatanter Bruch diplomatischer Gepflogenheiten: Russland veröffentlichte geheime Briefwechsel mit den Außenministerien in Paris und Berlin zum Ukraine-Konflikt.

Putin fordert Sicherheitsgarantien

Alexander Baunow vom Carnegie-Zentrum in Moskau beobachtet eine veränderte Strategie von Seiten des Kreml: "Putin möchte mit Hilfe militärischer Stärke und einer militärischen Eskalation zeigen, dass es sinnlos ist, auf Russland Druck auszuüben", sagt er. Der Kreml sei nicht länger kompromissorientiert, sondern setze seine "roten Linien" entlang der Grenzen aller russischen Interessen - "sowohl geographisch als auch virtuell".

Russlands Präsident Wladimir Putin spricht in diesen Tagen oft von solchen "roten Linien". Am Dienstag warnte er die NATO davor, "rote Linien" zu überschreiten. Und führte auch aus, was er damit meint: "Es geht vor allem um das Entstehen von Bedrohungen, die von diesem Territorium ausgehen könnten. Wenn ein Gefechtssystem auf dem Gebiet der Ukraine auftaucht, dann wäre die Flugzeit nach Moskau sieben bis zehn Minuten." Darauf müsse Russland reagieren. Bereits zuvor hatte Putin wiederholt US-Raketenabwehrsysteme in Polen und Rumänien kritisiert.

Nun verlangt Putin Gespräche mit dem Westen. Russland wolle "verlässliche und langfristige Garantien für seine Sicherheit", sagte er am Dienstag bei einer Zeremonie im Kreml. Russland werde auf Vereinbarungen bestehen, die "jegliche weitere Schritte der NATO nach Osten und die Stationierung von Waffensystemen ausschließen, die uns in großer Nähe zu russischem Territorium bedrohen."

Neuer Zank um NATO-Osterweiterung

Seit Jahren gibt es zwischen Russland und dem Westen Streit um eine angebliche Zusage des Westens nach Ende des Kalten Krieges: Der damalige US-amerikanische Außenminister James Baker habe damals angeblich Russland versichert, dass es keine Osterweiterung der NATO geben werde. Tatsächlich sind 2004 aber sieben Länder Osteuropas der NATO beigetreten - auf eigenen Wunsch. Bakers Aussage fand sich nie in einem formellen Vertragstext wieder.

Dennoch sieht Russland diesen Vorgang vor allem in letzter Zeit als Vertragsbruch des Westens. Für den Kreml sind Staaten wie die Ukraine Teil der russischen Einflusssphäre. Unter dem Titel "Über die historische Einheit von Russen und Ukrainern" veröffentlichte Putin im Sommer einen Essay, in dem er den Ukrainern sowohl eine eigene Identität als Volk als auch einen eigenständigen Staat abspricht. In der Ukraine war man alarmiert.

Westliche Staaten und auch die Ukraine ihrerseits betonen das Selbstbestimmungsrecht der Staaten - auch jener, die aus der Sowjetunion hervorgegangen sind. Für viele, etwa für die baltischen Staaten, war der NATO-Beitritt angestrebtes strategisches Ziel - auch, um sich Russland gegenüber verteidigen zu können.

Ukraine lehnt Forderungen aus Moskau ab

Auch in der Ukraine wird diese Idee heute vertreten. Die NATO-Mitgliedschaft hat das ukrainische Parlament als Ziel in die Verfassung schreiben lassen, in vielen öffentlichen Umfragen spricht sich eine relative Mehrheit der Ukrainer für einen NATO-Beitritt ihres Landes aus. Seit den 1990er-Jahren führen Ukraine und NATO gemeinsame Militärübungen durch. Für viele Ukrainerinnen und Ukrainer sind die gemeinsamen Militärübungen und Waffenlieferungen aus Bündnisstaaten wie der Türkei und den USA eine überlebensnotwendige Unterstützung im Kampf gegen Rebellen in der Ostukraine, die aus Russland finanziell und militärisch unterstützt werden.

Russland fordert, dass die ukrainische Regierung direkte Gespräche mit den Rebellenführern der selbsternannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk führt. Doch da diese direkt von Moskau abhängig sind, ergäben solche Gespräche aus ukrainischer Sicht wenig Sinn. Genausowenig die Vereinbarungen "Minsk I" und "Minsk II": Russland pocht auf die Einhaltung der Regeln, die der damalige ukrainische Präsident Petro Poroschenko 2015 unter hohem militärischen Druck auch durch verdeckt agierende russische Truppen unterschrieben hat - die aus Sicht der heutigen ukrainischen Regierung aber eine Gefahr für die Souveränität der Ukraine darstellen.

Vom eingefrorenen Konflikt zum Krieg

Ist Russland nun bereit, in die Ukraine einzumarschieren? Alexander Baunow vom Carnegie-Zentrum meint: "Auf direktem und militärischem Wege diese Ziele zu erreichen, das ist teuer und schwierig - das weiß auch Putin. Denn für eine Invasion der Ukraine gibt es kaum Unterstützung in der Gesellschaft." In Russland müsste Putin zudem den Mythos aufgeben, dass Russland offiziell mit dem Krieg in der Ostukraine nichts zu tun habe.

Dennoch berge die weitergehende militärische Eskalation eine große Gefahr, meint Baunow: "Als Staat müssen sie bedrohliche Tätigkeiten unternehmen, damit die Gefahr ernst genommen wird und die entstehende Eskalation ihre politischen Ziele erreicht." Diese "bedrohlichen Tätigkeiten" könnten den Konflikt gefährlicher machen: "Es erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass aus dem eingefrorenen Konflikt wieder ein heißer Krieg wird.”

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichteten die tagesthemen am 01. Dezember 2021 um 22:15 Uhr.