Menschen demonstrieren am 31. Juli 2023 gegen die Gewalt an Frauen.

Gewalt gegen Frauen in Bulgarien "Keine Einzige mehr!"

Stand: 11.08.2023 18:43 Uhr

Nach einem brutalen Messerangriff auf eine junge Frau hat eine Richterin in Bulgarien für Entsetzen gesorgt. Es folgten massive Proteste. Nun ringt das Land um schärfere Maßnahmen.

Von Yvonne Samsarova und Wolfgang Vichtl, beide ARD Wien

Ein Justizskandal erschüttert Bulgarien: Nach etlichen Messerstichen auf eine junge Frau spricht die Richterin lediglich von "geringfügigen physischen Verletzungen". Auf ihre Entscheidung, den mutmaßlichen Täter nach 72 Stunden wieder laufen zu lassen, folgen Demonstrationen in mehreren Städten, zu denen sich vor allem Frauen versammeln. Die Politik ist unter Druck, ringt nun um schärfere Maßnahmen gegen die Gewalt an Frauen.

Eine gebrochene Nase, ein brutal rasierter Kopf und 21 tiefe Messerstiche waren Anlass der Debatte. Ein 26-jähriger polizeibekannter Schläger soll das seiner 18-jährigen Freundin angetan haben - "aus Eifersucht", sagt die Mutter der Frau. Er habe an der Tür geklingelt und einfach zugestochen. Der mutmaßliche Täter sei erst vier Monate mit seinem Opfer zusammen gewesen. Sein Arm ziere ein Tattoo mit der Aufschrift "Freiheit oder Tod".

Proteste gegen häusliche Gewalt an Frauen

Es war dieser Fall, der landesweite Proteste mit Tausenden Teilnehmenden auslöste. Ihnen reicht es nun. "Wir werden nicht mehr leise sein", rufen Demonstrantinnen. "Schlafen Sie gut, Richterin …?" und "Wie viele Frauen mehr?" steht auf ihren Plakaten. Sie sind wütend. Auch der bulgarische Ministerpräsident Nikolaj Denkow meldet sich zu Wort: "Schockierend" sei die Gleichgültigkeit der Justiz.

Menschen demonstrieren am 31. Juli 2023 gegen die Gewalt an Frauen. Auf dem Transparent steht: „Wie viele Frauen noch?“

Protestierende demonstrieren gegen Gewalt an Frauen. Auf einem Schild stehen die Worte: "Wie viele noch?"

Fall weist auf systematisches Problem hin

Der Fall steht für das Ganze, ist ein Pars pro Toto für die Gewalt gegen Frauen. Eine von ihnen, die zu ihrem persönlichen Schutz in diesem Artikel "Maria" genannt wird, spricht aus eigener Erfahrung: Nachdem sie bei einer Hilfshotline angerufen habe, hätte sie nur den Tipp bekommen, zum Arzt zu gehen. "Ich habe auf der Straße geschlafen. Dann erst konnte ich hierherkommen", sagt sie.

"Hierher", wie sie es nennt, ist ein Zentrum für Frauen in Not in der bulgarischen Hauptstadt Sofia. Die 24 Jahre alte Frau wurde, wie sie sagt, von ihrem Mann geschlagen, eingesperrt, tagelang, ohne Wasser, ohne Essen. Der Mann habe gedroht, ihr kleines Kind umzubringen.

Zu wenig Hilfe für Frauen in Not

Es gibt Hilfe und Zufluchtsorte für Frauen wie Maria in Bulgarien, allerdings viel zu wenige. Es sind nur 18 Betten in der Millionenstadt Sofia und rund 180 im ganzen Land. Desislava Dimitrova von der Organisation "Feministische Mobilisierung" sagt, beim Thema Gewalt gegen Frauen hätten in Bulgarien bisher viel zu viele einfach weggeschaut. Männer schlügen ihre Frauen - das sei in vielen Familien immer noch "normal".

"Wir leben in Bulgarien immer noch in dieser patriarchalischen Welt. Die Rolle der Frau besteht nur darin, Mutter und Hausfrau zu sein, zu Hause zu bleiben, sich um ihren Mann zu kümmern, ihm zu dienen", sagt Dimitrova, die sich zu den Betroffenen zählt. "Ich war selbst Opfer von Gewalt. Ich habe Freundinnen und Bekannte, die Opfer von Gewalt wurden. Deshalb bin ich Aktivistin." Keine solle mehr sterben - das sei im Moment ihre einzige Motivation.

Proteste erhöhen Druck auf Politik

Die Proteste haben etwas bewegt im Land: Mehr Frauen trauen sich zu sagen, was ihnen passiert. Und auch das Gesetz gegen "häusliche" Gewalt wurde verschärft, es gilt jetzt nicht mehr nur für verheiratete Paare. Die Debatte im Parlament war heftig. Den Abgeordneten Weschdi Raschidow hielt es nicht mehr auf seinem Platz. Seine Partei, die GERB, regiert wieder mit. Raschidow war früher Kulturminister. Er lief zum Präsidentinnen-Pult, dachte das Mikrofon sei abgeschaltet - und pöbelte.

"Was soll der Unsinn" - gemeint ist das neue Gesetz - "alle Huren kommen plötzlich darauf, dass sie vor 16 Jahren vergewaltigt wurden." Raschidow ist inzwischen zurückgetreten und hat sich entschuldigt.

Die Proteste der Frauen gehen weiter. Ein leicht verschärftes Gesetz reicht noch nicht. Sie rufen: "Keine Einzige mehr!" Keine Frau in Bulgarien soll mehr verletzt oder getötet werden, weil ein Mann sie schlägt oder auf sie einsticht.

Wolfgang Vichtl, ARD Wien, tagesschau, 11.08.2023 15:05 Uhr