Trauernde auf dem Militärfriedhof bei Jerewan zwischen frischen Gräbern und armenischen Flaggen

Konflikt mit Aserbaidschan Wie gefährdet ist Armenien?

Stand: 04.10.2023 18:56 Uhr

Aserbaidschan hat die armenische Enklave Bergkarabach erobert - plant das Land nun weitere Angriffe? In Armenien bereitet man sich auf das Schlimmste vor.

Von Silvia Stöber, tagesschau.de, zurzeit Jerewan (Armenien)

"Was im Falle eines Luftalarms zu tun ist" - seit einigen Tagen kleben an den Hauseingängen in Armeniens Hauptstadt Aushänge des Katastrophenschutzministeriums. Beschrieben sind Verhaltensweisen, sollten Sirenen Luftalarm über Jerewan auslösen.

Auch wenn allabendlich Hunderte durch die Innenstadt flanieren und den Spätsommer genießen, liegt Anspannung über der Stadt. Lara Arahonian zum Beispiel hat seit dem Krieg 2020 einen Notkoffer am Eingang ihrer Wohnung bereitstehen. Sie ist krisenerfahren, aber so unsicher wie jetzt habe sie sich in Armenien noch nie gefühlt.

Ihre NGO "Women’s Resource Center" organisiert derzeit Hilfe für die Frauen und Mädchen, die nach Armenien geflohen sind, als aserbaidschanische Streitkräfte ab dem 19. September Bergkarabach einnahmen.

Angriff auf Armenien befürchtet

Während Staat und Zivilgesellschaft die Integration der offiziell mehr als 100.000 Menschen zu bewältigen versuchen, bleiben die Blicke angstvoll auf Aserbaidschan gerichtet. Denn Präsident Ilham Alijew könnte die militärische Durchsetzung weiterer Ziele anstreben.

Konkret geht es ihm um die Schaffung von Transportrouten über armenisches Territorium zur Exklave Nachitschewan. Zudem muss der Grenzverlauf zwischen Armenien und Aserbaidschan geklärt werden.

Auch wenn die Verhandlungen dazu seit einem Waffenstillstand im November 2020 liefen, griffen aserbaidschanische Truppen bereits mehrfach armenisches Territorium an und besetzten strategisch wichtige Höhen im bergigen Grenzgebiet. An der schmalsten Stelle zwischen Aserbaidschan und Nachitschewan ist das armenische Gebiet dazwischen keine 30 Kilometer breit.

Dazu kommt Propaganda aus Baku, wonach Aserbaidschan auf den Süden Armeniens oder auch das ganze Land Anspruch habe.

Die Karte zeigt Bergkarabach mit dem Latschin-Korridor und Goris.

Gewiefter Spieler

Experten in Jerewan wie Eric Hacopian beschreiben Alijew als gewieften Spieler, der die militärischen und strategischen Vorteile Aserbaidschans auszuspielen wusste. Nach der Einnahme Bergkarabachs aber bestehe die Möglichkeit, dass er sein Blatt überreize.

Schon die gewaltsame Vertreibung der Armenier zum jetzigen Zeitpunkt überraschte viele, hatte sich deren Führung doch zuvor auf die Regierung in Baku zubewegt. Außerdem hatte Alijew Vertretern der USA und aus der EU persönlich zugesagt, nicht militärisch gegen die Bevölkerung Bergkarabachs vorzugehen.

Dass er es dennoch tat, sieht Armeniens Ex-Außenminister Zohrab Mnatsakanyan als Demütigung für USA und EU an. Alijew wende eine Salami-Taktik an: Seine Streitkräfte ein Stück weit nach Bergkarabach oder nach Armenien vorzuschicken und internationale Reaktionen abzuwarten, bevor er weiter vorrückt.

Alijews sagte nun kurzfristig ein lang geplantes Treffen mit dem armenischen Premier Nikol Paschinjan im Beisein von EU-Ratspräsident Charles Michel, Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und Bundeskanzler Olaf Scholz an diesem Donnerstag im spanischen Granada ab. Das zeigt, dass er nun keineswegs kompromissbereiter ist, sondern neue Bedingungen stellt.Offenbar wollte Alijew vor allem, dass Macron bei dem Treffen nicht am Tisch sitzt, dem er eine aserbaidschanfeindliche Haltung unterstellt.

Auf sich allein gestellt

Hacopian, Mnatsakanyan und viele andere sehen ihr Land auf sich gestellt, das zusätzlich von seinem Verbündeten Russland bedroht wird. Da Präsident Wladimir Putin immer wieder Aserbaidschan den Vorzug gibt, wandte sich die armenische Führung nun dezidiert anderen Staaten zu - und rechnet mit Vergeltung aus Moskau.

In sicherer Erwartung höherer Gaspreise kursieren Überlegungen, wie stark die Wirtschaft beeinträchtigt wird und ob Holz ein Ersatz zum Heizen sein kann. Auch ein Staatsstreich und ein Attentat auf Paschinjan werden nicht ausgeschlossen.

Stärke entwickeln

Trotz oder gerade angesichts der Gefahren für die Staatlichkeit Armeniens ist vielerorts Entschlossenheit zu spüren. Armenien habe schon jetzt ein höheres BIP pro Kopf als Aserbaidschan, sagt etwa Hacopian. Als diktatorisch geführter Staat mit den Exportprodukten Öl und Gas werde Aserbaidschan unweigerlich schwächer, wenn diese Ressourcen in absehbarer Zukunft ausgingen.

Der armenische Journalist Raffi Elliott beschreibt als Ziel eine Aufrüstung seines Landes, die den Preis für Aserbaidschan soweit erhöht, dass es von Angriffen absieht. Dazu diene Militärkooperation mit Indien und Tschechien, deren Waffensysteme auf sowjetischen Modellen beruhen. Bei der am Dienstag von Frankreich versprochenen Militär-Kooperation müsse man noch abwarten, was diese genau beinhaltet.

Unterstützung aus Europa

Frankreich entsendet zudem einen Militärattaché nach Jerewan und will wohl ein Konsulat im Süden Armeniens einrichten - als starkes Signal an Aserbaidschan. In Deutschland gibt es den Vorschlag, 90 Tage Visafreiheit einzuführen.

NGO-Mitarbeiterinnen wie Lara Aharonian wünschen sich dies sehr, weil sie Monate auf Visa-Erteilungen warten müssten und deshalb oft nicht an Konferenzen teilnehmen könnten. Außerdem wäre es ein Zeichen von Vertrauen und Zugehörigkeit für Armenien, so Aharonian.

In Arbeit ist eine Stärkung der EU-Beobachtermission an der Grenze zu Aserbaidschan, die durch ihre Präsenz zu einer Beruhigung der Lage dort beitragen konnte. Zumindest hatte Alijew seit deren Ankunft Ende 2022 keine Großoffensive mehr auf Armenien gestartet, im Moment ist die Lage im Grenzgebiet noch relativ stabil.

Schwacher Druck auf Aserbaidschan

Fraglich ist, ob sich die EU auf Sanktionen gegen Aserbaidschan einigen könnte, wo doch etwa Ungarns Premier Viktor Orban beste Kontakte nach Baku pflegt. Die nicht nur von Armenien scharf kritisierte Vereinbarung über Energiekooperation mit Aserbaidschan, unterzeichnet von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, ist zwar unverbindlich.

Aserbaidschanische Gaslieferungen allerdings sind für südeuropäische Staaten von Bedeutung. Hier müssten alternative Lieferanten gefunden werden. Andere Investitionsvorhaben könnten nicht weiter verfolgt werden.

Möglich wären auch persönliche Sanktionen gegen jene, die als verantwortlich für schwere Menschenrechtsverstöße angesehen werden, nach dem Vorbild der Sanktionen gegen den Machtzirkel um Putin.

Die Agentur Reuters zitiert allerdings einen Diplomaten in Brüssel, wonach die EU das Vorgehen Aserbaidschans lediglich verurteilen könnte und sich auf Unterstützung für Armenien konzentrieren könnte - internationale Hilfe und Aufmerksamkeit, die das gegenüber seinen Nachbarn schwache Armenien für sein Überleben braucht.

Auf dem Militärfriedhof am Rande Jerewans wird sichtbar, welchen Preis die Armenier im Konflikt mit Aserbaidschan zahlen. Zu den tausenden Gräbern aus den zwei Kriegen bis 1994 und 2020 kommen täglich immer noch neue hinzu. In den Gesichtern der Angehörigen zeigt sich das tiefe Leid, das sonst in der alltäglichen Geschäftigkeit Jerewans verborgen bleibt.

Helga Schmidt, ARD Brüssel, tagesschau, 04.10.2023 16:00 Uhr