Nikol Paschinjan und Wladimir Putin (re.)
analyse

Armenien und Russland "Wir trauen ihnen nicht, sie respektieren uns nicht"

Stand: 16.09.2023 14:13 Uhr

Russland kommt seiner Rolle als Schutzmacht Armeniens nicht nach, andere Staaten bewirken mehr im Konflikt mit Aserbaidschan. Die Regierung in Jerewan wendet sich demonstrativ von Russland ab. Doch das ist schwierig

"Der jüngsten Lawine an Kommentaren und Erklärungen nach zu urteilen, sind die Beziehungen zwischen Armenien und Russland auf Vertrauen und Respekt aufgebaut. Wir trauen ihnen nicht, sie respektieren uns nicht."

Der ehemalige Außenminister Armeniens, Zohrab Mnatsakanyan, bringt in diesen Tagen auf den Punkt, was sich inzwischen über Jahre an Frust über die Schutzmacht aufgestaut hat, die Russland per Vertrag für die kleine Kaukasusrepublik zwischen der Türkei und Aserbaidschan sein will.

Immer wieder musste sich Armenien massivem Druck aus Moskau beugen. 2013 zum Beispiel sagte Armenien in letzter Minute das Assoziierungsabkommen ab, das es über Jahre mit der EU ausgehandelt hatte. Stattdessen trat Armenien der von Russland geführten Eurasischen Wirtschaftsunion bei.

2018 dann führte ein armenischer Oppositioneller - Nikol Paschinjan - einen friedlichen Machtwechsel herbei, zu dessen Versprechen der Austritt aus jener Union zählte. Doch kaum hatte seine Volksbewegung gesiegt, traf sich Paschinjan mit dem russischen Botschafter. Zum Premierminister gewählt, unternahm Paschinjan eine seiner ersten Reisen zu Russlands Präsident Wladimir Putin.

Festhalten am Bündnispartner

"Kehrtwendungen in der Außenpolitik können sehr gefährlich sein", begründete Paschinjan Anfang November 2020 im Interview mit tagesschau.de das Festhalten seiner Regierung am engen Bündnis mit Russland.

In jenen Tagen stand der Regierungschef mit dem Rücken zur Wand: Seit mehr als einem Monat tobte ein Krieg um das von Armeniern bewohnte Gebiet Bergkarabach im verfeindeten Nachbarstaat Aserbaidschan.

Die armenischen Truppen waren bereits auf dem Rückzug, besiegt auch mit Waffen, die Russland an Aserbaidschan geliefert hatte. Erst als die Vertreibung Zehntausender Armenier aus Bergkarabach drohte, setzte Russland einen Waffenstillstand durch und stationierte innerhalb kürzester Zeit eine Friedenstruppe in der Konfliktregion, allerdings ohne vertraglich vereinbartes Mandat.

Tatenlos und korrupt

In diesem Krieg konnte Putin noch damit argumentieren, dass sich Russland per Abkommen nur zum Schutz Armeniens, aber nicht der Armenier in Bergkarabach verpflichtet hatte. Doch schon wenige Monate später, im Frühjahr 2021, attackierten die aserbaidschanischen Streitkräfte ein erstes Mal Armenien selbst.

Aber weder Russland, noch das von ihm angeführte Militärbündnis OVKS kamen zu Hilfe, als Armenien um den vertraglich vereinbarten Beistand bat - nicht zu diesem Zeitpunkt und auch bei späteren Angriffen Aserbaidschans nicht.

Zudem sehen die russischen Friedenstruppen seit neun Monaten fast tatenlos zu, wie Aserbaidschan die Armenier in Bergkarabach von der Versorgung aus Armenien abschnitt, sodass es dort inzwischen an grundlegenden Dingen fehlt. Ein Versuch zur Beendigung der Blockade, in den das russische Rote Kreuz involviert war, änderte nichts an der Lage.

Viele Armenier dort sehen sich gezwungen, den russischen Soldaten Produkte zu Wucherpreisen abzukaufen. So groß der Frust der Armenier inzwischen ist, so wenig will auch die aserbaidschanische Regierung die russischen Soldaten auf ihrem Territorium akzeptieren, jedenfalls nicht länger als bis zum vereinbarten Jahr 2025, wie in der Waffenstillstandsvereinbarung von 2020 festgelegt.

Nichts mehr zu verlieren

Die Entwicklungen zeigen, dass Russland seine Interessen ohne Rücksicht auf Bündnisverpflichtungen verfolgt - Aserbaidschan ist mit seinen Energiereserven und seiner geografischen Lage der wirtschaftlich und sicherheitsstrategisch bedeutendere Staat.

Dies wurde noch sichtbarer, seitdem Russland seine Ressourcen im Krieg gegen die Ukraine konzentriert und angesichts der Sanktionen nach Transportrouten Richtung Asien sucht.

Aus aktuellen Äußerungen Paschinjans ist zu schließen, dass Russland seinen vertraglich vereinbarten Waffen- und Munitionslieferungen an Armenien nicht mehr nachkommt. Auch die eigenen Truppen in Armenien modernisierte Russland nicht, während Aserbaidschan über neue Waffen aus der Türkei und Israel verfügt.

Paschinjans Schlussfolgerung: Armenien könne sich nicht mehr auf Russland als Garanten für seine Sicherheit verlassen, so erklärte er es dem Magazin "Politico".

Wie von russischen Restriktionen befreit wirkte die armenische Außenpolitik in den vergangenen Tagen. Ob es um eine erste Lieferung humanitärer Güter in die Ukraine ging, die Anerkennung des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag oder ein Training mit US-Soldaten in Armenien. Anders als früher lässt sich die Regierung nicht mehr von Drohungen und Zusicherungen aus Moskau beeindrucken.

Karte: Aserbaidschan, Bergkarabach, Armenien

Begrenzter Einfluss

Denn mehr Wirkung entfaltet derzeit die Politik anderer Staaten. Seit Monaten betreiben die USA und die EU Telefondiplomatie - sobald sich eine neue Eskalation abzeichnet, rufen hochrangige Vertreter in Washington, Brüssel, Paris und auch Berlin ihre Amtskollegen in Armenien und Aserbaidschan an. Seit EU-Beobachter im Grenzgebiet Armeniens zu Aserbaidschan patrouillieren, gab es dort zumindest keine zivilen Opfer mehr.

Auch setzt Armenien auf Waffenlieferungen aus Indien. Hinzu kommt eine Vereinbarung für eine technisch-militärische Kooperation mit Tschechien. Die weiter bestehende, vertraglich und wirtschaftlich enge Anbindung Armeniens an Russland bleibt jedoch Hindernis für eine weitergehende Öffnung in Richtung Europa.

Dazu würde zum Beispiel eine Visaliberalisierung für Armenien zählen, wie sie der SPD-Bundestagsabgeordnete Michael Roth vorschlägt.

Auch in der EU wird Aserbaidschan als der bedeutendere wirtschaftliche Partner gesehen. Allerdings ergibt sich durch den Bedarf Aserbaidschans an ausländischen Investitionen die Möglichkeit für die EU, zumindest in begrenztem Maße Bedingungen zu stellen. Bei einer Invasion Aserbaidschans in Armenien käme die EU auch nicht mehr um Sanktionen gegen Baku herum.

Doch die Lage bleibt hochprekär und Armenien wirtschaftlich abhängig von Russland. Sollte Putin weniger Ressourcen im Krieg gegen die Ukraine einsetzen, könnte Russland rücksichtsloser als bisher seine Interessen auch im Südkaukasus umsetzen.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Deutschlandfunk am 26. Oktober 2020 um 23:37 Uhr.