Armenier fliehen aus Bergkarabach in Richtung des Grenzortes Goris (Armenien)
reportage

Südkaukasus Flucht aus Bergkarabach - für immer

Stand: 29.09.2023 11:13 Uhr

Zehntausende Armenier auf der Flucht aus Bergkarabach - im Grenzort Goris bekommen sie erste Unterstützung. Sie sind gezeichnet von der überstürzten und mühseligen Fahrt. Nun muss eine langfristige Lösung für sie gefunden werden.

Von Silvia Stöber, zzt. Goris, Armenien

Vom frühen Morgen bis spät in die Nacht erreichen Menschen aus Bergkarabach den zentralen Platz in der Kleinstadt Goris unweit der Grenze zu Aserbaidschan. Sie haben 30 bis 40 Stunden Fahrt durch den Latschin-Korridor hinter sich, der die Enklave mit Armenien verbindet.

Aus ihren Häusern und Wohnungen konnten sie nur mitnehmen, was in Kofferräume und auf Autodächer oder in die Transportfächer von Bussen passt.  

Einiges wird auf Lastwagen, Baggern und Traktoren transportiert, die die Armenier vor den aserbaidschanischen Truppen retten wollten. Seitdem diese am 19. September nach Bergkarabach vorgedrungen waren, war den meisten klar, dass sie ihre Heimat wohl für immer verlassen müssen. Mehr als 70.000 sind bereits angekommen. 

Ein geflüchteter Armenier aus Bergkarabach fährt durch Goris (Armenien) mit seinem Bagger, auf dem er seine Habseligkeiten transportiert.

Irgendwie flüchten - und sei es mit einem Bagger, der die Habseligkeiten transportiert: Auch dieser Armenier hat es nach Goris geschafft.

Fassungslos angesichts der erzwungenen Flucht

Noch benommen von der Fahrt steigen Frauen, Kinder, Alte von Lkw-Ladeflächen herunter, Freiwillige in rot-blauen Westen helfen ihnen, bieten ihnen Wasser an. Andere kommen in Pkw an, bepackt mit Koffern, Decken, Kissen, Haushaltsgegenständen und Spielzeug, das ihre Besitzer gerade noch mitnehmen konnten. 

Im provisorisch eingerichteten Registrierzentrum sitzt eine alte Frau auf einem Stuhl und streichelt unablässig den Nacken ihres Mannes, der gekrümmt und mit verzweifeltem Blick neben ihr sitzt - die Fassungslosigkeit über die erzwungene Flucht aus seiner Heimat steht beiden ins Gesicht geschrieben. Eine Rot-Kreuz-Helferin spricht mit einer jungen Mutter, die ihr Baby inmitten von Taschen mit einer Flasche stillt. 

Langfristige Lösungen

Kinder freuen sich an Gebäck und Süßigkeiten, von denen es in den vergangenen neun Monaten immer weniger gab, seit Aserbaidschan den Latschin-Korridor als einzige Verbindung zwischen Bergkarabach und Armenien immer stärker blockiert hatte und am Ende nicht einmal mehr Medikamente in das Gebiet gelangten. 

Jene, die nicht bei Angehörigen unterkommen, werden in von der Regierung bezahlten Hotelzimmern in Goris und anderen Orten in der Region untergebracht. Kranke erhalten erstmals seit Monaten wieder medizinische Versorgung. 

Die armenische Regierung erhöhte am Donnerstag die kurzfristigen Mittel für die Flüchtlinge um umgerechnet eine Million Euro. Die Herausforderung besteht nun darin, langfristig für sie Wohnraum zu schaffen, damit sie nicht auf Dauer in Hotels und bei Angehörigen ausharren müssen. Nach Armenien waren wegen des Krieges gegen die Ukraine Zehntausende Russen gekommen. 

Geflüchtete aus Bergkarabach stehen in Goris (Armenien) für Hilfsgüter an.

Wie geht es nun weiter? Geflüchtete aus Bergkarabach stehen in Goris für Hilfsgüter an.

Vollstrecker der Selbstauflösung

Die selbsternannte Republik Bergkarabach, aus der die Armenier geflüchtet sind, hat praktisch aufgehört zu existieren, auch wenn sie nach Ankündigung der Führung der Enklave formell erst im neuen Jahr aufgelöst werden soll.

Präsident Samwel Scharamanjan, der erst am 9. September gewählt worden war, blieb unter dem Druck der Aserbaidschaner, dem weder Armenien noch Russland als Schutzmacht etwas entgegensetzten, nur die Abwicklung.

Führungsfiguren droht langjährige Haft

Was widerständigen Führungsfiguren droht, demonstrierte die aserbaidschanische Regierung mit der Festnahme des schwerreichen armenisch-russischen Geschäftsmannes und Mäzens Ruben Wardanjan am 27. September.  

Er war vor einem Jahr nach Bergkarabach gekommen und hatte als Staatsminister gegen eine Annäherung an Aserbaidschan gearbeitet. Nun zeigen ihn Videos mit zerzaustem Bart, wie er von aserbaidschanischen Polizisten in Handschellen in eine Gefängniszelle gebracht wird, nachdem er am Grenzkontrollpunkt des Latschin-Korridors festgenommen worden war. Ihm droht langjährige Haft. 

Auf anderen Videos, die im Internet kursieren, sind aserbaidschanische Soldaten zu sehen, die in Häusern der Armenier Möbel zerstören. Noch nicht verifiziert sind Berichte über Gräueltaten gegen armenische Soldaten und mögliche Kriegsverbrechen gegen Zivilisten. 

Gedanken an Rache und Rückeroberung

Auch wenn die aserbaidschanische Regierung nun um die Armenier wirbt, ihnen die Registrierung als Staatsbürger mit Rechten und Sicherheiten anbietet, werden womöglich nur wenige Hundert dort bleiben - wohl gerade so viele, dass Russland eine reduzierte Präsenz seiner "Friedenstruppen" rechtfertigen könnte. Die aserbaidschanische Regierung will sie aber eher früher als später ganz abziehen sehen.  

Aus diesem Grunde könnte sie einer internationalen Beobachtermission zustimmen, über deren mögliches Format derzeit verhandelt wird. Für die Armenier, die Bergkarabach unter Strapazen verlassen haben, kommt dies zu spät.  

Die Wut nicht nur auf die Aserbaidschaner, sondern auch auf die armenische Regierung, die nichts unternahm, ist groß. Ebenso auf die russischen Truppen, die die Entwaffnung der armenischen Kräfte und die Evakuierung der Menschen aktiv unterstützte. 

Aus der Wut werden bereits Gedanken an Vergeltung und Rückeroberung geboren, wenn sich Armenien in einigen Jahren erholt habe und wieder stark genug sei. Dass Armenier und Aserbaidschaner je wieder in Städten und Dörfern nebeneinander leben, diese Vorstellung scheint ferner denn je.