Fußgänger auf der London Bridge
Interview

Brexit "Ist England noch meine Heimat?"

Stand: 31.01.2020 11:34 Uhr

"Heute ist ein trauriger Tag": Tanja Bültmann lebt seit Jahren in Großbritannien. Im Gespräch mit tagesschau.de spricht die Deutsche über Ungewissheiten, Diskriminierung und warum sie nicht einfach ihre Koffer packt.

tagesschau.de: Frau Bültmann, wie geht es Ihnen heute am Brexit-Tag?

Tanja Bültmann: Es ist ein trauriger Tag. Ich lebe seit elf Jahren hier in Newcastle. Ich bin hier Zuhause. Jedenfalls dachte ich das die ganze Zeit. Aber der Brexit wirft bei mir gerade sehr viele Fragen auf.

Ich bin hier, weil es in Europa bislang die Freizügigkeit gab. Sie gab mir die Freiheit, Großbritannien als meine Heimat zu wählen. Auf einmal soll das nicht mehr gelten. Ich muss mich jetzt neu um meinen Aufenthalt bewerben.

Zur Person

Tanja Bültmann kommt ursprünglich aus Bielefeld und studierte unter anderem in Edingburgh Geschichte und Soziologie. Sie zog zunächst nach Neuseeland und Schottland. Seit elf Jahren ist sie an der Universität Northumbria in Newcastle, England. Sie forscht unter anderem zu Migration und Diaspora. Sie engagiert sich daneben auch als Bürgerrechtlerin und gründete die Organisation EU Citizens' Champion-Campagne.

tagesschau.de: Ist das nicht nur ein bürokratisches Verfahren? Was bedeutet diese Bewerbung konkret?

Bültmann: In der Theorie wird immer wieder beschworen, dass das ein ganz einfaches Verfahren sei. Per Handy kann man diese Bewerbung machen. Man muss von sich selbst ein Selfie machen und es hochladen samt seiner Bewerbungsdaten. Seine Datenschutzrechte muss man dabei einfach per Klick aufgeben. Ich finde das beängstigend. Ich weiß nicht, was mit meinen Daten passiert, wer die verarbeitet, wo sie überhaupt gespeichert werden.

Auch, wenn man so einfach ein Bleiberecht bekommt, das Verfahren an sich ist fühlt sich schon diskriminierend an. Die Regierung betont zwar immer, dass "wir eine Familie" sind und dass sie auch uns "liebt". Aber behandelt man so jemanden, den man liebt? Das sind doch einfach nur hohle Phrasen.  

tagesschau.de: Warum fühlen Sie sich diskriminiert?

Bültmann: Es erzeugt so eine Unsicherheit, was mit einem passiert. Es geht an die eigene Existenz. Es ist eben nicht nur ein bürokratisches Verfahren, bei dem man einfach zum Amt geht und sich einen Stempel abholt.

Aber es ist eine richtige Bewerbung. Außerdem gibt es für diejenigen, die kürzer als fünf Jahre im Land sind nur einen sogenannten Vorstatus - das ist nur etwas Vorläufiges. Die müssen sich also noch ein zweites Mal bemühen. Und was ist mit denen, die gar nicht wissen, wie das Verfahren geht? Die zum Beispiel gar kein Smartphone besitzen? Das kann man doch nicht so einfach voraussetzen. Ich habe das aus akademischer Sicht bewertet und eine Befragung unter EU-Bürgern gemacht. Da haben mehr als 3000 Menschen teilgenommen. Viele von ihnen schilderten tatsächlich Angst, weil sie auch das Vertrauen in die Regierung verloren haben.

tagesschau.de: Ist diese Angst denn konkret begründet?

Bültmann: Na ja, es gab vor fast zwei Jahren den so genannten "Windrush-Scandal". Viele Einwanderer vor allem aus der Karibik waren betroffen. Ihnen wurden fundamentale Rechte aberkannt, wie etwa der Zugang zu Gesundheitsversorgung. Einige wurden sogar ausgewiesen - zu Unrecht. Das waren Menschen, die seit Jahrzehnten in Großbritannien lebten. Der britische "Guardian" machte diesen Skandal öffentlich. Das führte dazu, dass die damalige Innenministerin Amber Rudd zurücktreten musste. Dennoch hallt so etwas auch bei uns nach.

"Das ist doch hier mein Zuhause"

tagesschau.de: Wie wirkt sich das auf die Stimmung zwischen EU-Bürgern und der einheimischen Bevölkerung aus?

Bültmann: Man fühlt sich schon diskriminiert und herabgesetzt. Vor allem von denjenigen, die den Brexit befürworten. Die fühlen sich jetzt richtig bestätigt. Das kann sogar vereinzelt in Hass umschlagen. Selbst ich habe das erlebt. Da gibt es schon manchmal einen dummen Spruch. Ich lief letztens über die Straße und habe auf Deutsch telefoniert. Da rief mir einer zu: "Hier spricht man Englisch", oder gerne auch: "Geh doch nach Hause." Wohin soll ich denn gehen? Das ist doch hier mein Zuhause. Das ist eine Stimmung, die von einem Regierungschef wie Boris Johnson durchaus gefördert wird. Er macht das nicht völlig offen, eher indirekt. Zum Beispiel indem er immer wieder betont, wie schlecht die europäische Freizügigkeit doch ist, dass sie nichts Gutes für Großbritannien gebracht habe. Menschen wie ich sind aber wegen dieser Freizügigkeit überhaupt im Land. Da fühlt man sich natürlich angesprochen.

tagesschau.de: Haben Sie darüber nachgedacht, das Land zu verlassen?

Bültmann: Das werde ich wirklich oft gefragt. Schottland hält mich hier. Das ist ja von hier nicht weit weg. Dort habe ich mal gewohnt und es gibt eine tiefe Verbindung. Dort ist der Umgang ein ganz anderer, eine völlig andere Rhetorik. Die schottische Regierung macht auch viel, um den EU-Bürgern zu helfen. Ich hänge an Schottland; es ist meine Heimat. Ich kann daher auch nicht einfach meine Koffer packen. Darum sage ich für mich erstmal: abwarten.

tagesschau.de: Werden Sie sich denn weiterhin für die Rechte der EU-Bürger mit Ihrer Kampagne "EU-Citizens'-Champion" einsetzen?

Bültmann: Ja, ich werde auf jeden Fall weitermachen, weil die Frage der Bürgerrechte leider überhaupt noch nicht geklärt ist, auch wenn die Politik etwas anderes sagt. Trotz des Brexit-Abkommens bleiben viele Fragen offen.

Das Gespräch führte Iris Marx, tagesschau.de.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Deutschlandfunk am 31. Januar 2020 um 05:23 Uhr.