Demonstranten im kasachischen Almaty im Januar 2022.

Kasachstans "blutiger Januar" Wenn Tote auf der Anklagebank sitzen

Stand: 24.11.2022 07:05 Uhr

Bei Unruhen in Kasachstan starben im Januar mindestens 238 Menschen. Doch statt Aufklärung gibt es Beschattung, Festnahmen und groteske Gerichtsprozesse gegen Verstorbene.

Das, was Aydos Meldechan auf seinem Handy zeigt, ist gefährlich. So gefährlich, dass er mehrmals den Bus gewechselt hat, Umwege lief und nun bittet, sich im öffentlichen Park in Almaty doch woanders hinzusetzen. Denn gegenüber hat ein auffällig unauffälliger Mann Platz genommen und scheint Fotos zu machen.

Meldechan zeigt Fotos auf seinem Handy. Zu sehen ist sein altes Auto. Im schwarzen Blech kleine Löcher: Vorne, hinten, von der Seite, in der Kopfstütze des Fahrers. Es sind Einschusslöcher eines Maschinengewehrs.

Zwischen den Sitzen liegen kleine, rot-weiße Brocken. Es sind Splitter aus dem Schädelknochen seiner Tochter, wie Meldechan erzählt: Die Kugel des Scharfschützen habe der vierjährigen Aykurkem den Schädel zerschmettert: "Am 7. Januar habe ich sie verloren."

Proteste gegen die Regierung

Es ist damals kalt in Almaty. Offiziell ist Feiertag, die meisten Geschäfte sind geschlossen. Doch seit Tagen herrscht im sonst autoritär regierten Staat zudem Ausnahmezustand. Hunderttausende Menschen gehen auf die Straße. Zunächst nur, um gegen das Ende der Preisdeckelung von Autogas zu protestieren.

Schlagartig verdoppelten sich die Preise für den Treibstoff, der vor allem im kasachischen Westen zum Autofahren genutzten wird. Doch schnell forderten die wütenden Protestierenden auch den Rücktritt des Präsidenten und das Ende eines Systems, unter dem sie seit dem Ende der Sowjetunion litten.

Angeschossen, doch keine Hilfe

Eine, die damals mit dabei war, nennen wir Aizhan Serikowa. Ihren echten Namen möchte sie aus Sicherheitsgründen lieber nicht verraten. Auch sie treffen wir in einem öffentlichen Park, auch sie hat Angst, verfolgt zu werden. Denn schon mehrmals sei der Geheimdienst bei ihr zu Hause gewesen, immer wieder klingele die Polizei durch, erzählt sie.

Serikowa wurde damals angeschossen, kann bis heute nicht richtig laufen. Doch Hilfe vom Staat bekommt sie keine, für die Medikamente muss sie selbst das Geld auftreiben.

Serikowa ging damals auf die Straße, um, wie sie sagt, für ihre Kinder zu demonstrieren. Denn viel zu lang habe ihre Generation nichts gemacht, nur zugeschaut, wie fast dreißig Jahre lang ein und derselbe Mann das rohstoffreiche Kasachstan regierte: Nursultan Nasarbajew. Sein Vermögen wird heute auf mehr als acht Milliarden Dollar geschätzt.

"Wir haben uns einfach gut gefühlt", erinnert sich die rund Fünfzigjährige an das erste Mal in der demonstrierenden Menge. "Wir waren glücklich, dass wir, das Volk, endlich etwas für uns gefordert haben." Die Menschen, die sie damals auf den Straßen Almatys getroffen habe, seien jung gewesen. Und arm. Manch einer protestierte in Sommerschuhen und dünnen Jacken.

Schießbefehl des Präsidenten

Meldechans Kinder wollen damals, am 7. Januar, einfach nur zu einem Supermarkt am anderen Ende der Stadt fahren. Der älteste Sohn, der 18-jährige Bauzhan, fährt das Auto. Neben ihm die 15-jährige Janelle. Auf der Rückbank der siebenjährige Bigislam und die kleine Aykurkem.

Als sie gegenüber der Stadtverwaltung an einer Ampel halten, wird plötzlich das Feuer eröffnet. Es ist der Tag, an dem Nasarbajews Nachfolger, Präsident Kassym-Schomart Tokajew, seinen Sicherheitskräften den Schießbefehl erteilt.

Aykurkem stirbt. Die anderen Geschwister überleben die Schusswunden. Doch psychologisch sei die ganze Familie an jenem Tag gestorben, erzählt der Familienvater. Keine drei Monate nach dem Vorfall wurde der älteste Sohn dann auch noch in die Armee eingezogen, wo er laut Meldechan schikaniert und drangsaliert wurde.

Sein Sohn sage zu ihm: "Papa, jeder hier in der Armee könnte die Person sein, die auf uns geschossen hat." Wie solle er so seine Familie beschützen, fragt Meldechan. "Ich weiß noch nicht einmal, wohin ich mich noch wenden soll." Die Polizei habe Beweisstücke wie die Splitter aus dem Schädelknochen seiner Tochter angeblich "verloren", erzählt Meldechan. Bis heute sei das Verfahren nicht abgeschlossen, Tatverdächtige konnten nicht ermittelt werden.

Amnestie für Schützen

Währenddessen unterschrieb Präsident Tokajew Anfang November ein umstrittenes Amnestiegesetz: Es setzt die Strafverfolgung für rund 1500 Menschen aus, darunter auch Angehörige der Sicherheitskräfte, die seinem Schießbefehl nachgekommen waren.

In den Augen des kasachischen Staats waren damals "Terroristen" und "Extremisten" auf der Straße. Weshalb man bis heute zwanghaft versuche, "diese 20.000 Terroristen" zu finden, erklärt die Menschenrechtsaktivistin Bogda Ramzhanowa: "Auf Kosten der Verstorbenen, denn Tote können ja bekanntlich nicht mehr sprechen."

Fünf Tote vor Gericht

Nun stehen in der kasachischen Stadt Taras neun Protestierende vor Gericht. Das Groteske daran: Fünf von ihnen wurden damals erschossen. Auf der Anklagebank sitzen also nicht die Angeklagten, sondern im übertragenen Sinne ihre Familien. Denn sollten die Männer wegen der "Teilnahme an Unruhen" oder gar wegen "Terrorismus" verurteilt werden, dann hätten die Familien weder Anspruch auf Entschädigungszahlungen, noch dürften sie beispielsweise als Lehrer arbeiten, warnt Ramzhanowa.

Sie wollte zum Prozess eigentlich nach Taras reisen. Sie wurde in der Woche der vorgezogenen Präsidentschaftswahlen allerdings überraschend festgenommen. Der Vorwurf, laut einer befreundeten Aktivistin, gegen die ebenfalls Anklage erhoben wurde: "Machtergreifung".

"Schämen Sie sich dafür nicht?"

Auch Aigerim Tleuzhan, eine andere Menschenrechtsaktivistin und Journalistin, wurde durch ein Gericht für zwei Monate unter Hausarrest gestellt. Eine Woche zuvor reiste sie noch nach Astana, um ihrem Präsidenten persönlich diese Frage zu stellen: "Wer ist für die nach offiziellen Angaben 238 Toten verantwortlich?"

Es gebe keinen einzigen Prozess gegen Menschen, die damals geschossen hatten, erzählt Tleuzhan. Stattdessen würden jetzt sogar Tote angeklagt. "Ich will Präsident Tokajew in die Augen schauen", sagt sie, "und ihn fragen: Schämen Sie sich dafür nicht?"

Annette Kammerer, Annette Kammerer, ARD Moskau, 23.11.2022 17:25 Uhr

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Deutschlandfunk am 18. November 2022 um 18:40 Uhr.