Eine Hand hält eine indische Flagge

Internet-Shutdowns in Indien Offline, wenn es der Regierung passt

Stand: 11.06.2023 20:20 Uhr

Den Internetzugang einzuschränken oder ganz abzuschalten - es gehört zum festen Repertoire der Behörden Indiens. Das Land hat mittlerweile die meisten Internet-Shutdowns weltweit. Oft sind die Gründe politischer Natur.

Von Mathias O’Mahony, ARD Neu-Delhi

Einmal kurz unterwegs seine Mahlzeit online bezahlen, eine WhatsApp-Nachricht versenden oder sich von Google Maps navigieren lassen. All das war für 30 Millionen Menschen in weiten Teilen des indischen Bundesstaats Rajasthan Ende Februar eine ganze Woche lang unmöglich.

Weil die Prüfungen für angehende Lehrer und Lehrerinnen liefen, hatte die Regierung des Bundesstaates einfach die mobile Internetverbindung von sechs Uhr morgens bis 18 Uhr abends gekappt.

Vor Prüfungsbeginn waren Teile der Klausur mitsamt Lösung im Internet gelandet. Bereits in den Vorjahren hatten die Prüfungen nach Leaks abgesagt oder verschoben werden müssen. Mit der drastischen Maßnahme, so hieß es, solle die Verbreitung geleakter Dokumente gestoppt und somit Betrug verhindert werden.

Es geht nicht nur um Prüfungen

Ob Abschaltung des mobilen Netzes, Drosselung der Internetgeschwindigkeit oder das temporäre Sperren von ausgewählten Websites, all das wird als Internet-Shutdowns bezeichnet. 2022 gab es laut "Access Now" weltweit 187 Fälle in 35 Ländern. Indien führt mit 84 Fällen die Liste an - deutlich vor der Ukraine und dem Iran.

Dabei geht es nicht nur um verhältnismäßig Harmloses wie bei den Prüfungen in Rajasthan. Oft sind es politische Gründe. Man wolle durch Shutdowns verhindern, dass Falschinformationen verbreitet werden, heißt es von der Regierung immer wieder. Es gehe darum, so eine weitere häufige Begründung, die öffentliche Ordnung zu wahren oder wiederherzustellen.

Ein paramilitärischer Soldat in Jammu und Kaschmir.

In Jammu und Kaschmir im Nordwesten Indiens gab es 2022 mit 49 Internet-Shutdowns mehr als in der Ukraine und im Iran zusammen.

Meist als Mittel gegen Unruhen und Proteste

In Jammu und Kaschmir im Nordwesten Indiens gab es 2022 mit 49 Internet-Shutdowns mehr als in der Ukraine und im Iran zusammen. 2019 hatte die hindunationalistische Regierung Indiens die Autonomie der Region aufgehoben, seither wird sie praktisch von Neu-Delhi aus verwaltet. Um Proteste, Gewalt und das Verbreiten von Desinformationen zu verhindern, so hieß es, beschloss die Zentralregierung im August 2019 einen Shutdown.

Die Begründung wurde vielfach kritisiert, denn mit dem Shutdown gingen Verhaftungen von Politikern und Kritikern der indischen Regierung einher. Insgesamt währte der Internet-Shutdown nach Aufhebung der Autonomie 552 Tage, von denen 175 Tage nicht nur das mobile Internet, sondern auch lokale Netze, das Kabelfernsehen und die Festnetztelefonie abgestellt war.

Bei Kritik abschalten

Aber nicht nur in Jammu und Kaschmir griff die Regierung zu Internet-Shutdowns gegen drohende Unruhen und Proteste. Sie wurden unter anderem auch 2019 und 2020 bei Protesten gegen eine Novelle des Staatsbürgerschaftgesetzes eingesetzt, das viele Muslime als diskriminierend betrachteten, sowie bei Bauernprotesten 2020 und 2021, die sich gegen die Liberalisierung der Landwirtschaft richteten.

Manchmal wird gar nicht das Internet abgeschaltet, sondern einfach nur der Strom, so Anfang des Jahres, als indische Studierende in der Jawaharlal-Nehru-Universität in Delhi gemeinsam einen kritischen Dokumentarfilm der BBC über Indiens Premierminister Narendra Modi anschauen wollten.

Im Mai wurden Internet-Shutdowns vor allem in Manipur eingesetzt. In dem Bundesstaat im Nordosten Indiens war es zu einem Konflikt zwischen zwei Ethnien gekommen. Der Shutdown hält in manchen Regionen noch an. Mittlerweile sind knapp 100 Menschen bei den Unruhen gestorben.

Zerstörung auf einer Straße nach Unruhen im indischen Bundesstaat Manipur.

Im Mai wurden Internet-Shutdowns vor allem im Bundesstaat Manipur eingesetzt, wo es zu einem gewaltsamen ethnischen Konflikt gekommen war. Der Shutdown hält in manchen Regionen von Manipur noch an.

Milliardenschwerer wirtschaftlicher Schaden

Seit 2016 führt Indien die Zahl der Internet-Shutdowns weltweit an, der Höchststand in Indien wurde 2018 mit 134 Abschaltungen erreicht. 2022 entstand Indien durch Shutdowns ein wirtschaftlicher Schaden von 2,8 Milliarden US-Dollar, wie Daten der Internet Freedom Foundation zeigen.

Eine Studie des Internet- und Mobilfunkverbands Indiens besagt, dass 2022 fast 760 Millionen Menschen das Internet in Indien nutzten. Das entspricht zwar erst 52 Prozent der indischen Bevölkerung, doch die Zahl wächst schnell. 96 Prozent der Internetnutzer in Indien sind auf das mobile Internet angewiesen, so die Regulierungsbehörde für Telekommunikation in Indien.

Onlinezahlungen per QR-Code mit dem Handy sind in Indien weit verbreitet, so dass bei Internet-Shutdowns oft nicht mehr bezahlt werden kann und manche Menschen ihren Beruf nicht mehr ausüben können. Zudem sind ärmere und benachteiligte Menschen besonders betroffen, da sie ohne Internetzugang oft nicht mehr auf Essensrationen und Sozialprogramme der Regierung zurückgreifen können. Empfindliche Schäden entstehen auch in der Gesundheitsversorgung und in der Bildung.

Indiens Premierminster Narendra Modi bei einer Wahlkampfveranstaltung in Bengaluru im Mai 2023.

Seit der Regierungsübernahme 2014 durch die hindunationalistische Bharatiya Janata Party unter Premierminister Modi verschlechtert sich die Lage der Pressefreiheit.

Pressefreiheit gefährdet

Indischen Politikern wurde stets vorgeworfen, ein ambivalentes Verhältnis zur Pressefreiheit zu haben, doch seit der Regierungsübernahme 2014 durch die hindunationalistische Bharatiya Janata Party unter Premierminister Modi verschärft sich die Situation.

Obwohl Modi gerade jetzt im Rahmen der G20-Präsidentschaft betont, dass Indien die "Mutter der Demokratie" sei, landet das Land im Pressefreiheitsindex von Reporter ohne Grenzen nur noch auf Platz 161 von 180. Die Organisation sah im letzten Jahr insbesondere die Übernahme von Medienhäusern durch Vertraute Modis und Hetzkampagnen gegen Regierungskritiker als Teil einer negativen Entwicklung.

Zudem schränken Shutdowns auch die Informationsfreiheit ein. Journalisten und Journalistinnen können nicht mehr berichten oder sind auf Ausnahmen der Regierung angewiesen. So können Menschen Faktenchecks nicht abrufen und Gerüchte verbreiten sich schneller. Und die indische Regierung greift auch mit anderen restriktiven Mitteln ins Internet ein. So wurden seit 2015 von den Behörden mehr als 55.000 Internetseiten gesperrt und allein 2022 über 6000 Posts in den sozialen Medien gelöscht, Tendenz steigend.

Rechtslage in Indien

Es gibt keine Studien, die Internet-Shutdowns als probates Mittel zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung darstellen. Stattdessen kommt eine Studie von Jan Rydzak, dem ehemaligen stellvertretenden Direktor des Zentrums für digitale Politik der Universität Stanford, zum Schluss, dass es insbesondere bei gewalttätigen Unruhen kontraproduktiv ist, das Internet abzuschalten. Shutdowns könnten Gewalt sogar anstacheln.

Die Rechtslage in Indien zu Internet-Shutdowns ist undurchsichtig. So gab es 2020 zwar ein Urteil des Verfassungsgerichts, das diese nur dann zulässt, wenn sie "verhältnismäßig" und "notwendig" sind. Unangekündigte und zeitlich nicht limitierte Shutdowns sind laut indischem Verfassungsgericht ebenfalls nicht erlaubt. Jedoch wurde dieses Urteil in den vergangenen drei Jahren immer wieder ignoriert.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Deutschlandfunk am 02. März 2023 um 19:32 Uhr.