Mann mit Flagge der IG BCE

Tarifrunde in der Chemiebranche Der ganz eigene Weg der IG BCE

Stand: 15.04.2024 19:02 Uhr

Die Chemiebranche startet in die Tarifverhandlungen. Zwar hält sich die Gewerkschaftsseite mit den Lohnforderungen vergleichsweise zurück. Dafür hat eine andere Frage besonderes Gewicht.

Von Alina Leimbach, ARD-Finanzredaktion

In Rheinland-Pfalz ist heute die erste Verhandlungsrunde für die dortigen Beschäftigten der Chemie- und Pharmaindustrie erfolglos vertagt worden. Nun geht es am 14. Mai weiter, dann werden die Verhandlungen für alle Beschäftigten der Branche auf Bundesebene fortgesetzt.

Die Gewerkschaftsseite, die Chemiegewerkschaft IG BCE, geht mit der Forderung nach sieben Prozent Lohnsteigerung in die aktuelle Tarifrunde. Die Arbeitgeberseite, der Bundesarbeitgeberverband Chemie (BAVC), hat bisher kein Gegenangebot vorgelegt; sie verweisen auf eine Krisenstimmung in der Chemie- und Pharmabranche. 

"Mitglieder verdienen einen Ausgleich"

Doch für viele Beobachter ist ohnehin eine andere Forderung der IG BCE zentral: Die Gewerkschaft verlangt in der Tarifrunde eine Besserstellung von Gewerkschaftsmitgliedern in dem Flächentarifvertrag. Bisher gibt es das nach eigenen Angaben nur bei kleineren Haus- oder Flächentarifverträgen. 

Der IG BCE-Verhandlungsführer Oliver Heinrich betonte bereits vor der Tarifrunde: "Unsere Mitglieder verdienen einen Ausgleich dafür, dass sie jahrzehntelang Tariffrieden in der Chemie garantiert haben. Und zwar jetzt." Tatsächlich gilt die IG BCE als wenig streikfreudig. Die letzten großen, bundesweiten Streiks fanden 1971 statt - vor mehr als 50 Jahren.

Konkrete Angaben dazu, wie diese Besserstellung aussehen soll, macht die Gewerkschaftsseite bisher nicht. Doch die Palette an Möglichkeiten für eine Besserstellung von Gewerkschaftsmitgliedern ist groß -  denkbar wären etwa Einmalzahlungen, Zuschüsse zur Betriebsrente oder mehr freie Tage. 

Option schon jetzt bei IG-Metall genutzt

Dass sich die Gewerkschaftsseite bewusst zurückhält, was die genaue Forderung angeht, ist taktischer Natur - denn die Besserstellung von Gewerkschaftsmitgliedern in einem Branchentarifvertrag ist ein heiß umkämpftes Terrain. Bisher gibt es das nur in einzelnen Haus- oder Flächentarifverträgen.

IG Metall-Mitglieder bekommen etwa in der Leiharbeitsbranche bis zu rund 517,50 Euro zusätzliches Urlaubsgeld im Vergleich zu Nichtmitgliedern. Das Bundesverfassungsgericht hatte diese Möglichkeit einer Besserstellung 2018 für zulässig erklärt.  

Allerdings: Oft gleicht die Arbeitgeberseite diese Leistungen für alle Beschäftigten aus, um den Anreiz gering zu halten, in die Gewerkschaft einzutreten. Doch genau das ist das Ziel der IG BCE: so wieder mehr Menschen dazu zu bewegen, Gewerkschaftsmitglied zu werden. 

Kampf um die Mitglieder

Zwar steht die Chemiegewerkschaft nach eigenen Angaben noch gut da - nach IG BCE-Angaben ist die Chemie- und Pharmabranche eine der Branchen mit einer der besten Tarifabdeckung bundesweit. Sie liegt danach im Schnitt bei 82 Prozent. Anders als andere Gewerkschaften hat die IG BCE in den vergangenen Jahren ihre Mitglieder mehr oder weniger halten können und kommt nun nach eigenen Angaben auf 580.000 Mitglieder. Das entspricht etwa dem Niveau von vor zehn Jahren. 

Doch insgesamt kämpfen die Gewerkschaften seit Jahren mit Mitgliederschwund. Waren Anfang der 90er-Jahre bundesweit noch rund zehn Millionen Menschen in Deutschland Mitglied in einer der zum Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) gehörenden Gewerkschaften, hat sich die Zahl inzwischen fast halbiert. Die Zahl der Mitglieder lag 2023 laut DGB bei 5.670.000. Im vergangenen Jahr hat es erstmals wieder seit fast zwanzig Jahren mehr Eintritte als Austritte gegeben - ein leichtes Plus von rund 20.000 Menschen.

Hohe Mitgliedszahlen, starke Gewerkschaften

Nur, wo es ausreichend Mitglieder gibt, haben Gewerkschaften die Möglichkeit, genug Druck zu machen, auch wirklich gute Verträge auszuhandeln. Dazu geht es wie so oft um Geld: Sinken die Mitgliederzahlen, gibt es auch weniger Mitgliederbeiträge, die die Streikkasse füllen oder hauptamtliche Gewerkschafter bezahlen, die für die Organisation wichtig sind. Gewerkschaften versuchen daher zunehmend auf diese Sonderkonditionen für Mitglieder zu setzen. 

Die Arbeitgeberseite in der Chemiebranche zeigt sich grundsätzlich an einer Stärkung der Tarifpartnerschaft interessiert. Schon 2022 hatten der BAVC und die IG BCE vereinbart, die Tarifbindung auf beiden Seiten zu stärken.

Doch die aktuelle Forderung der Gewerkschaft lehnt der BAVC ab. Die Begründung: "Eine Differenzierung nach Gewerkschaftszugehörigkeit spaltet die Belegschaften und findet auf Arbeitgeberseite keine Akzeptanz", heißt es in einem Positionspapier. Die Sorge der Arbeitgeber: mehr Austritte aus den Arbeitgeberverbänden und damit sogar eine Schwächung der Tarifbindung.

Sorge der Arbeitgeber "hanebüchen"?

Der BAVC sieht andere Stellschrauben für eine bessere Tarifbindung: "Unsere Vorschläge reichen von einer größeren Flexibilisierung und Entbürokratisierung unserer Tarifverträge über steuerliche Anreize für Mitglieder beider Seiten bis zu betrieblichen Veranstaltungen zur Förderung der Sozialpartnerschaft", teilte ein Sprecher tagesschau.de mit.

Das weist die IG BCE zurück. Man habe derlei Absprachen bereits in Hunderten Flächen- und Haustarifverträgen mit Zehntausenden Beschäftigten getroffen. "Weder hat anschließend eine massenhafte Tarifflucht auf Arbeitgeberseite eingesetzt, noch wurde ein Keil in die Belegschaften getrieben", sagt etwa Verhandlungsführer Heinrich. Solche Schreckensszenarien der Chemie-Arbeitgeber seien "schlicht hanebüchen". 

Warnstreiks nicht ausgeschlossen

Gelingt der gut organisierten IGBCE auf dem Feld ein Erfolg, könnte das für viele andere Gewerkschaften interessant sein. Und auch in anderer Hinsicht dürfte die aktuelle Chemie- und Pharmaverhandlungsrunde von Interesse sein. Erstmals könnten wieder Streiks anstehen. 

Verhandlungsführer Heinrich hat in der Süddeutschen Zeitung Warnstreiks ins Spiel gebracht. "Wenn wir bis Ende Juni nicht in die Nähe eines Abschlusses kommen, dann können wir unsere Forderungen auch anders deutlich machen", sagt der Gewerkschafter der SZ. "Die Arbeitgeber sollten eigentlich wissen: Arbeitskämpfe zählen zu unserem Werkzeugkasten." Am 30. Juni endet die Friedenspflicht in der Chemie-Tarifrunde. 


In einer ersten Version des Artikels hatten wir das tarifliche Zusatzgeld "T-ZUG" als Beispiel für Leistungen genannt, die bisher nur Gewerkschaftsmitgliedern zusteht. Da dies nicht der Fall ist, haben wir dies geändert.

Mehr zum Hintergrund dieser und anderer Korrekturen finden Sie hier: tagesschau.de/korrekturen