Die Krankenkassen steuern auf hohe Defizite zu. | dpa

Defizit der Krankenkassen Milliardenloch nicht nur wegen Corona

Stand: 28.12.2020 16:26 Uhr

Die gesetzlichen Krankenkassen steuern 2021 auf ein Milliardendefizit zu. Die Pandemiekosten sind nur einer der Gründe. Nicht nur höhere Zusatzbeiträge sollen das Finanzloch stopfen.

Von Lucretia Gather und Alexander Dietz, SWR

Das zu Ende gehende Corona-Jahr 2020 war eine Achterbahnfahrt für die gesetzlichen Krankenkassen und endet mit einer bitteren Prognose: Die Kassen erwartet 2021 ein Minus von 16,6 Milliarden Euro. Das errechneten Bundesgesundheitsministerium und Krankenkassen bereits im Herbst.

Lucretia Gather
Alexander Dietz

Pandemie entlastete die Kassen zunächst

"Schuld an diesem Milliardenloch ist nicht nur Corona", sagt Martin Litsch, Vorstandsvorsitzender des AOK-Bundesverbandes. Die Pandemie habe zunächst die Kassen sogar entlastet, weil im Frühjahr deutlich weniger Menschen zum Arzt gegangen seien - aus Angst vor Ansteckung. Auch die Klinken hätten ihren Betrieb heruntergefahren und Operationen verschoben.

Dieser Trend habe sich im Laufe des Jahres aber wieder normalisiert. Aufgeschobene Behandlungen seien nachgeholt worden. "Wir schließen mit einem Minus ab, und das dicke Ende für die gesetzlichen Krankenkassen kommt erst noch", sagt Litsch. Er kritisiert die Politik von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn. Die führe dazu, dass die Kassen ihre Rücklagen "verfeuern" müssten. "Politische Konzepte, wie klug gegengesteuert werden soll, sucht man derzeit vergeblich", kritisiert Litsch.

Weniger Beitragszahler, teure neue Therapien

Die finanzielle Entwicklung bei den gesetzlichen Krankenkassen sei schon lange absehbar gewesen, sagt Stefan Etgeton, Experte für Gesundheitspolitik bei der Bertelsmann-Stiftung. Weniger Einnahmen wegen eines höheren Anteils an Rentnern unter den Versicherten und gleichzeitig höhere Kosten - das sei die einfache Formel, die das Defizit erkläre.

Ein Grund für steigende Ausgaben sei der medizinisch-technische Fortschritt: "Es gibt viele neue Therapieansätze und sehr gute neue Medikamente, doch gerade die sind häufig extrem teuer", erläutert der Gesundheitsexperte. Dazu kämen steigende Pflegekosten. Und: In Deutschland kämen immer noch zu viele Patienten ins Krankenhaus, die man auch ambulant behandeln könnte.

Eine Studie der Bertelsmann Stiftung hatte das Minus bei den gesetzlichen Krankenkassen bereits vorausgesagt - allerdings erst für Mitte der 2020er-Jahre. Dass das Defizit nun schon 2021 komme, liege sicher auch an Mehrkosten durch die Corona-Pandemie. Aber: "Das Finanzproblem der Kassen ist definitiv älter als das Virus", sagt Gesundheitsexperte Etgeton.

Höhere Zusatzbeiträge

Doris Pfeiffer, Vorstandsvorsitzende des GKV-Spitzenverbandes, sieht schwere Zeiten auf die Kassen zukommen: "Das kommende Jahr wird für die gesetzliche Krankenversicherung nicht nur, aber insbesondere auch durch die weiterhin zu erwartenden pandemiebedingten Finanzwirkungen sehr herausfordernd werden." 

Um die Finanzierungslücke von 16,6 Milliarden Euro zu schließen, hat der Bund einen Zuschuss von fünf Milliarden Euro beschlossen. Acht Milliarden Euro sollen die Kassen aus ihren Reserven beisteuern.

Der Rest soll durch höhere Zusatzbeiträge aufgefangen werden. Das Bundesgesundheitsministerium hat den durchschnittlichen Zusatzbeitrag, den die Versicherten bezahlen, erhöht: um 0,2 Prozentpunkte auf 1,3 Prozent. Ein Orientierungswert für die Krankenkassen, die ihren Zusatzbeitrag festlegen.

Sonderkündigungsrecht für Versicherte

Wenn die Krankenkassen ihren Zusatzbeitrag erhöhen, haben die Versicherten ein Sonderkündigungsrecht, sagt Sabine Strüder vom Fachbereich Gesundheit und Pflege der Verbraucherzentrale Rheinland-Pfalz. Sobald die Krankenkasse eine Erhöhung schriftlich mitteilt, gilt dieses Sonderkündigungsrecht bis zum Ende des Monats, in dem der Zusatzbeitrag erhöht wird.

Es gilt außerdem unabhängig davon, wie lange Versicherte bereits bei der Krankenkasse Mitglied sind. "Sie können das Sonderkündigungsrecht auch dann ausüben, wenn sie die Mindestbindungsfrist noch nicht erreicht haben", so Strüder.

Versicherte, die bereits länger als zwölf Monate bei ihrer Krankenkasse versichert sind, könnten auch ohne Sonderkündigungsrecht regulär mit Ablauf des übernächsten Monats wechseln.

Da die 105 gesetzlichen Kassen in Deutschland im Wettbewerb zueinander stünden, sei die Höhe der Zusatzbeiträge "ein ganz sensibler Punkt", sagt Strüder. Denn während der Grundbeitrag der Krankenkassen gesetzlich vorgeschrieben ist, variiert der Zusatzbeitrag je nach Krankenkasse.

Verschiedene Wege zu solideren Finanzen

Aus Sicht des Gesundheitsexperten Etgeton können langfristig nur strukturelle Veränderungen das Finanzproblem der gesetzlichen Krankenkassen lösen. Ein Hebel sei es, Krankenhausaufenthalte reduzieren. Durch Stärkung der ambulanten Versorgung könnten viele, zum Teil unnötige Krankenhausaufenthalte vermieden werden, beispielsweise bei Patienten mit Diabetes.

Außerdem leiste sich Deutschland ein duales System aus gesetzlicher und privater Krankenversicherung, bei dem sich ausgerechnet die Gutverdiener dem Solidarausgleich entziehen könnten.

Eine andere Lösung sei, den Steuerzuschuss für die Kassen dauerhaft zu erhöhen. Dies sei aber eine politische Entscheidung, und die könne nur die künftige Regierung treffen.

Über dieses Thema berichtete Bayern2 Nachrichten am 28. Dezember 2020 um 15:00 Uhr.