
Sinkende Reallöhne Jedem fünften Briten droht Armut
Die explodierenden Preise für Energie und Lebensmittel werden die Armut in Großbritannien drastisch verschärfen, lautet das Ergebnis einer Studie. Fast jeder fünfte Einwohner könnte betroffen sein.
Aufgrund der derzeit ungebremst anziehenden Kosten für Energie und Lebensmittel und den anhaltend steigenden Verbraucherpreisen wird die Armut in Großbritannien einer neuen Studie zufolge deutlich zunehmen. Setze die künftige Regierung die bisherige Politik fort, werde die Zahl der Menschen in absoluter Armut bis zum Haushaltsjahr 2023/24 (31. März) um drei auf 14 Millionen steigen, teilte die Denkfabrik Resolution Foundation (RF) heute mit. Das wäre fast jeder Fünfte der 67 Millionen britischen Einwohner.
Vom Wohlstandsverlust zum Armutsrisiko
Die relative Kinderarmut - davon spricht man, wenn Eltern weniger als 50 Prozent des Mediannettoeinkommens für ihre Familie zur Verfügung haben -, klettert danach bis 2026/27 auf 33 Prozent. Hauptursache sei der rasante Fall der Reallöhne, betonten die Autoren der Studie. Bis Mitte 2023 werde das gesamte Reallohnwachstum seit 20 Jahren zunichte gemacht sein.
Bislang war im Zusammenhang mit den europaweit explodierenden Verbraucherpreisen überwiegend von sogenannten "Wohlstandsverlusten" die Rede, die auch eine Folge des russischen Angriffs auf die Ukraine seien und in Kauf genommen werden müssten. Die britische Studie zeigt jetzt, dass auch immer mehr Menschen direkt von Armut betroffen sein könnten.
"Erschreckende Aussichten"
"Großbritannien erlebt bereits den größten Rückgang der Reallöhne seit 1977, und ein harter Winter droht, da die Energierechnungen auf 500 Pfund im Monat schnellen werden", sagte RF-Expertin Lalitha Try. Die Aussichten seien erschreckend; deshalb seien radikale politische Handlungen wie etwa ein Energieunterstützungspaket im Wert von Dutzenden Milliarden Pfund nötig, fordert Try.
Auch in anderen europäischen Staaten werden milliardenschwere staatliche Hilfen längst intensiv diskutiert oder sind bereits beschlossen worden. In Deutschland soll in den kommenden Tagen beispielsweise ein weiteres Entlastungspaket verabschiedet werden.
Das Problem der anziehenden Inflation dürfte auch weiterhin bestehen bleiben: Im Juli war die Inflation in Großbritannien bereits auf 10,1 Prozent geklettert und damit auf die höchste Rate seit 1982. Auch in der Eurozone kletterten die Verbraucherpreise im August auf einen Rekordwert.
Mehr als 20 Prozent Inflation?
Experten rechnen mittlerweile mit einem weiteren kräftigen Anstieg der britischen Verbraucherpreise. Fachleute der US-Investmentbank Goldman Sachs warnten für den Fall andauernd hoher Gaspreise vor einer Inflation von mehr als 22 Prozent im kommenden Jahr, hatte die "Financial Times" unlängst berichtet. Selbst in weniger drastischen Szenarien rechnet Goldman Sachs damit, dass die britische Inflation ihren Höhepunkt 2023 bei etwa 15 Prozent erreichen werde.
Die US-Investmentbank steht mit diesen Einschätzungen nicht allein: Auch die US-Großbank Citi hatte kürzlich für Januar einen Anstieg auf 18 Prozent zu Beginn des neuen Jahres prognostiziert.
Goldman Sachs hält eine Rezession im Vereinigten Königreich für unvermeidlich - selbst bei Entlastungspaketen und anderen diskutierten Maßnahmen, die die Favoritin im Rennen um die Johnson-Nachfolge, Liz Truss, angekündigt hat.
"Sommer der Streiks"
Unterdessen fordern die Beschäftigten der britischen Bahn angesichts der hohen Inflation deutliche Lohnerhöhungen sowie würdige Arbeitsbedingungen. Sie hatten erst vor wenigen Tagen einen dreitägigen Ausstand beendet, Ende September sind weitere Arbeitskämpfe geplant.
Streikaktionen gibt es im Land derzeit auch unter anderem bei der Post, in Häfen und im Medienbereich. Andere Branchen werden derzeit zur Bereitschaft zu Arbeitskampfmaßnahmen befragt. Britische Medien sprechen deshalb schon vom "Sommer der Streiks".
Der Generalsekretär der Gewerkschaft Communication Workers Union, Dave Ward, hatte gesagt: "Wir können nicht in einem Land leben, wo unsere Bosse Milliardengewinne einfahren, während ihre Angestellten gezwungen sind, Tafeln zu nutzen."