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Hintergrund

Tarifverhandlungen Lohn-Preis-Spirale im Anmarsch?

Stand: 27.08.2021 17:06 Uhr

Bahnstreiks und Fünf-Prozent-Forderungen im öffentlichen Dienst: Angesichts der hohen Inflation verlangen die Gewerkschaften wieder stärkere Lohnzuwächse. Künftige Tarifrunden dürften umkämpfter sein.

Fünf Prozent mehr Gehalt fordern die Gewerkschaften für die rund eine Million Beschäftigten des öffentlichen Dienstes der Länder. Zudem verlangen Verdi und der Beamtenbund dbb einen monatlichen Mindestbetrag von 150 Euro, wie sie gestern mitteilten. Damit deuten die Arbeitnehmerseite ein mögliches Ende der Zurückhaltung in der Corona-Pandemie an. Denn konjunkturell stehen die Zeichen auf Aufschwung - und die Inflation sorgt für sinkende Reallöhne.

Lohnerhöhungen auf breiter Front können nach Einschätzung von Ökonomen allerdings eine gefährliche Lohn-Preis-Spirale auslösen, die eine temporär sehr hohe Inflation weiter befeuert. So wird der wechselseitige Zusammenhang bezeichnet, wenn Lohn- und Preiserhöhungen aufgrund von Anpassungsreaktionen der Gewerkschaften und Unternehmen eine Kettenreaktion auslösen.

"Sicherung der Kaufkraft"

"Es gibt Bereiche im öffentlichen Dienst, wo es dampft und brodelt", sagte Verdi-Chef Frank Werneke. Die Länderbeschäftigten hätten in den zurückliegenden Monaten den Laden am Laufen gehalten. Doch der Verhandlungsführer der Länder, Niedersachsens Finanzminister Reinhold Hilbers (CDU), hat bereits deutlich gemacht, dass die Länder wegen des hohen Gesamtschuldenstands, der Ende des ersten Quartals bei rund 640 Milliarden Euro lag, nur wenig Spielraum für Gehaltssteigerungen sehen. Damit deutet sich eine harte Tarifrunde an, die am 8. Oktober beginnt. Nachdem die Lokführer der Deutschen Bahn zuletzt ebenfalls für mehr Geld ihre Arbeit niedergelegt hatten, droht nun der nächste Tarifstreit. Bereits 2019 hatte die Länder-Tarifrunde für Warnstreiks an Kitas, Schulen und Unikliniken geführt.

Nach Angaben von Werneke geht es bei den jüngsten Tarifverhandlungen "um die Sicherung der Kaufkraft". Dabei verwies er auf die stark gestiegene Inflationsrate von 3,8 Prozent im Juli - der höchste Stand seit 28 Jahren. Da sich die hohen Energie- und Lebensmittelpreise vor allem auf niedrige Einkommensgruppen auswirkten, sei eine überproportionale Stärkung nötig.

Zuletzt eher moderate Abschlüsse

Jahrelang hatten die Gewerkschaften die Teuerungsrate der Preise nicht beachten müssen. Da die Steigerungen minimal waren, orientierten sie sich an der Entwicklung von Konjunktur, Beschäftigung und Produktivität. So auch in der Corona-Krise. Als die Wirtschaft am Boden lag, argumentierten die Arbeitgeber mit Umsatz- und Ergebniseinbrüchen und die Gewerkschafter hielten sich mit hohen Forderungen zurück. Dazu kam, dass während der Pandemie kaum zu größeren Versammlungen, Warnstreiks oder gar zu Arbeitskämpfen aufgerufen werden konnte. All das hatte eher moderate Abschlüsse zur Folge.

Erstmals seit 10 Jahren fiel die bereinigte reale Tariflohnentwicklung daher mit einem Minus von 0,2 Prozent negativ aus. Anders formuliert: Die Preise stiegen zuletzt stärker als die Löhne. Nach den bislang vorliegenden Abschlüssen kletterten diese 2021 durchschnittlich um 1,6 Prozent, wie das Tarifarchiv des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung errechnete.

"Nachdem die Tariflöhne in den Jahren 2018 und 2019 mit Zuwächsen von 3,0 beziehungsweise 2,9 Prozent relativ kräftig angestiegen waren, standen die Tarifauseinandersetzungen seit Frühjahr 2020 ganz im Zeichen der Corona-Krise“, so Thorsten Schulten, Leiter des WSI-Tarifarchivs. Im Jahr 2020 habe der Anstieg nur noch bei 2,0 Prozent gelegen. "Angesichts eines nach wie vor sehr unsicheren Pandemieverlaufes hat sich dieser rückläufige Trend auch im Jahr 2021 weiter fortgesetzt." Die größte Tarifauseinandersetzung im ersten Halbjahr 2021 habe in der Metall- und Elektroindustrie stattgefunden.

Metall- und Chemie-Tarifrunde im kommenden Jahr

Derweil haben im ersten Halbjahr auch eine Reihe von Tarifverhandlungen begonnen, die bislang noch zu keinem Ergebnis geführt haben. Dazu gehört etwa der Einzelhandel, der nach der Metall- und Elektroindustrie und dem öffentlichen Dienst größten Tarifbranche in Deutschland. Größere Auseinandersetzungen finden aktuell auch bei den Banken, im Bauhauptgewerbe statt - sowie bald auch im öffentlichen Dienst.

Zwar gelten die dort gezahlten Gehälter in der Regel nicht als Auslöser von Lohn-Preis-Spiralen, da sie über Schulden oder Steuern bezahlt werden. Aber: Im kommenden Jahr stehen die großen Tarifverhandlungen mit der Metall- und Chemiebranche auf der Agenda.

"Die Unternehmen müssen sich nach Corona auf eine generell expansivere und konfliktfreudigere Lohnpolitik einstellen", sagte Hagen Lesch, Tarifexperte beim Institut der deutschen Wirtschaft in Köln (IW), kürzlich der "Wirtschaftswoche". Die Forderungen der Gewerkschaften werden laut Lesch deutlich steigen - und damit auch die Bereitschaft zum Arbeitskampf.

Zieht die Inflation weiter an?

Könnte es also spätestens im kommenden Jahr tatsächlich zu einer Lohn-Preis-Spirale kommen? Zumal Experten wie Bundesbankpräsident Jens Weidmann damit rechnen, dass sich die Inflationsrate zum Jahresende in Richtung fünf Prozent bewegen könnte.

Euro-Münzen und Geldscheine liegen auf einem Tisch

Die Inflationsrate in der EU ist auf den höchsten Stand seit 2018 gestiegen. mehr

"Die Teuerungsrate dürfte in den kommenden Monaten insbesondere wegen der Basiseffekte der temporären Mehrwertsteuersenkung und der Energiepreise noch etwas weiter anziehen", sagte auch Silke Tober, Expertin für Geldpolitik vom gewerkschaftsnahen Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung, kürzlich dem HR. Nicht zuletzt die Importpreise heizen sie weiter an.

Dass aber die Löhne einen größeren Effekt haben, glauben Ökonomen derzeit eher nicht. Laut ifo-Präsidenten Clemens Fuest wird sich der Preisschub zwar weiter beschleunigen. "Aber damit es zu einer inflationären Lohn-Preis-Spirale kommt, müssten die Löhne deutlich schneller steigen als es in den letzten Jahren auch bei besserer Wirtschaftslage der Fall war", so Fuest im "Handelsblatt". Damit rechne er nicht.

Auch Ivan Mlinaric, Geschäftsführer des Düsseldorfer Vermögensverwalters Quant.Capital Management, gibt Entwarnung: Sehe man einmal von Aktionen politisch motivierter Spartengewerkschaften ab, sprächen die aktuellen Tarifvereinbarungen hierzulande nicht für überzogene Lohnforderungen.

Experten sehen Aufholeffekt

Simon Junker vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) sieht ebenfalls keine Gefahr einer Lohn-Preis-Spirale. "Alles in allem deutet derzeit nichts auf anhaltend hohe Inflationsraten hin." Diese seien ein Phänomen in diesem Jahr, das sich vor dem Hintergrund der geringen Inflation des vergangenen Jahres als nicht dramatisch erweise. "Beide Coronajahre 2020/21 zusammengenommen steigen die Preise im Durchschnitt um weniger als zwei Prozent - gemäß der EZB-Definition sind die Preise stabil", betont Junker.

Experten bezeichnen die aktuelle Inflationsrate daher als eine Art Aufholeffekt. Denn im vergangenen Jahr war die Inflation so niedrig wie kaum zuvor. Im Dezember 2020 wurden sogar deflationäre Tendenzen beobachtet, sprich sinkende Preise. Sogenannte Basiseffekte sorgen für den aktuell hohen Wert. Sprich: Kommen Preise von einem niedrigen Niveau, sind die Steigerungsraten schnell hoch.

Tarifbindung der Beschäftigten gesunken

Christoph Schröder, Einkommenspolitik-Forscher am arbeitgebernahen Institut der deutschen Wirtschaft (IW), warnt deshalb davor, die zuletzt stark gestiegenen Preise zum Maßstab für Tarifverhandlungen zu nehmen. Die aktuell hohe Inflation sei vor allem auf gestiegene Rohstoffpreise und fiskalische Effekte zurückzuführen. "Sie ist daher kein Ausweis gestiegener Gewinne, die man umverteilen könnte", sagte Schröder dem "Handelsblatt".

Bessere Tarifverträge betreffen indes sowieso nur etwa die Hälfte der Deutschen. Die Gewerkschaft Verdi erinnerte heute an die abnehmende Tarifbindung: Es bestünden bundesweit für nur noch 51 Prozent der Beschäftigten tarifliche Regelungen, sagte der Vorsitzende Werneke in Berlin. In manchen Sektoren liege die Tarifbindung sogar deutlich niedriger.

So hätten im Handel nur 25 Prozent der Beschäftigten einen Tarifschutz. "Und das nach einer Ausgangssituation, in der wir Ende der 1990er-Jahre noch praktisch eine Tarifbindung von 100 Prozent hatten", so Werneke. Ähnlich schwach sehe es in der Pflege aus.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Deutschlandradio am 26. August 2021 um 19:08 Uhr.