Flüchtlinge auf dem Weg nach Griechenland
Kommentar

Flüchtlingspolitik Ein europäisches Trauerspiel

Stand: 02.03.2020 18:02 Uhr

Die Eskalation an der türkisch-griechischen Grenze geht auf Erdogans Konto. Bleibt Europa aber weiter untätig, macht es sich mit schuldig.

Ein Kommentar von Holger Romann, BR

Es ist eine Tragödie, die sich lange angekündigt hat. Und wie meist bei Tragödien ist die Wucht, mit der das Verhängnis am Ende eintritt, umso größer, als zuvor niemand die Vorzeichen und Warnungen ernst nehmen wollte.

Fünf Jahre nach der letzten sogenannten Flüchtlingskrise, in deren Verlauf rund eine Million Bürgerkriegsopfer aus Syrien und anderen Konfliktregionen über die Balkanroute bei uns Zuflucht suchten, bahnt sich im griechisch-türkischen Grenzgebiet eine Katastrophe von vergleichbarem Ausmaß an. Und das, obwohl sich doch alle Beteiligten damals geschworen hatten, 2015 dürfe sich nicht wiederholen.

Hauptsächlich innenpolitisch motiviert

Fragt man nach dem oder den Schuldigen, fällt die erste Antwort leicht: Es ist vor allem der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan, der für die jüngste Eskalation verantwortlich zeichnet. Er war es, der vor einigen Wochen mit seinem eigenmächtig beschlossenen Einmarsch in Nordsyrien den nicht enden wollenden Krieg im Nachbarland aufs Neue angefacht und damit die erwartbare Gegenreaktion des syrischen Diktators Baschar al-Assad und seines kühl kalkulierenden Beschützers Wladimir Putin provoziert hat.

Nun, da sich abzeichnet, dass sein hauptsächlich innenpolitisch motiviertes Militärabenteuer außer Kontrolle zu geraten droht, versucht der gar nicht mehr so starke Mann in Ankara die Verbündeten zu erpressen, indem er ohne triftigen Grund den Beistandsartikel 5 aus dem NATO-Vertrag beschwört und gleichzeitig das vor ziemlich genau vier Jahren in Kraft getretene Flüchtlingsabkommen mit der EU in Frage stellt.

Zynischer Schachzug

Das mag ein Akt der Verzweiflung sein. Aber auch ein überaus zynischer Schachzug, mit dem der Vabanquespieler Erdogan sein wahres Gesicht zeigt und sich ein weiteres Mal als verlässlicher Partner des Westens disqualifiziert.

Schaut man genauer hin, ist die Sache komplizierter: Denn dass sich das heikle Thema Migration nicht einfach so von selbst erledigt, hätten die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union eigentlich wissen können. Dass im Mittelmeerraum trotz des EU-Türkei-Deals der Druck schon seit geraumer Zeit wieder bedrohlich steigt - siehe die unhaltbaren Zustände in den Lagern auf Lesbos, Samos und Kos - war für alle erkennbar und liegt nicht allein an der sich zuspitzenden Gefechtslage in Syrien.

Angesichts von inzwischen weit über 3,5 Millionen Bürgerkriegsflüchtlingen im Land kann man übrigens durchaus verstehen, dass auch die Türken allmählich die Geduld verlieren.

Nichtstun schützt nicht vor Schuldigwerden

Die Wahrheit ist: In Brüssel, Paris und Berlin hat man die mühsam erkaufte Atempause der vergangenen fünf Jahre leider nicht genügend genutzt. Stattdessen hat man erst lange weggesehen und jene EU-Mitgliedsländer, die ganz unmittelbar und am schwersten von dem Problem betroffen sind - Italien und Griechenland nämlich - weiter vertröstet, wenn nicht allein gelassen.

Als das eigene Versagen dann nicht mehr zu übertünchen war, versuchte man es, wie stets, mit eilig zusammengezimmerten Notlösungen und halbherzigen Versprechen. Nicht einmal zu einer kraftvollen Neuauflage der Marine-Mission "Sophia", konnte man sich unlängst durchringen. Und von der berühmt-berüchtigten "europäischen Lösung", sprich: einer Reform der unsinnigen Asylregeln von Dublin und einer fairen Verteilung Schutzbedürftiger auf alle 27 EU-Länder ist man nach fünf fruchtlosen Jahren des Diskutierens und Streitens weiter entfernt denn je.

Im Angesicht von Not und Elend nichts zu tun, schützt aber bekanntlich nicht vor dem Schuldigwerden. Und noch länger darauf zu hoffen, dass die halsstarrigen Osteuropäer und ihr ungarischer Wortführer Viktor Orban ihr Veto gegen eine verbindliche Flüchtlingsquote irgendwann aufgeben, wäre naiv.

Kugeln und Tränengas sind keine Option

Wenn die EU, oder besser gesagt, jene ihrer Mitglieder, die die vielzitierten europäischen Werte ernst nehmen und Schlimmeres verhindern wollen, müssen sie jetzt rasch handeln. Ein paar Telefonate und ein symbolischer Solidaritätsbesuch von Kommissionschefin Ursula von der Leyen und Ratspräsident Charles Michel in Griechenland sind da nicht genug.

Jetzt ist echtes und beherztes Krisenmanagement gefragt. Dazu gehört, Griechenland und das ebenfalls betroffene Bulgarien schnell mit ausreichend Material und Personal beim Grenzschutz und bei der humanitären Versorgung der Flüchtlinge zu unterstützen.

Außerdem sollte die EU nichts unversucht lassen, den gefährdeten, aber letztlich unverzichtbaren Flüchtlingsdeal mit der Türkei zu retten, notfalls mit mehr Geld und indem man auch jene Teile der Vereinbarung ernst nimmt, auf die die türkische Seite mit einigem Recht pocht: etwa Gespräche zur Erweiterung der bestehenden Zollunion. Und so bald wie möglich sollte man die Brandstifter des Syrienkonflikts, voran Putin und Erdogan, mit sanftem Druck an den Verhandlungstisch bringen.

Die alten europäischen Kernstaaten - Deutschland, Frankreich, Italien, Belgien, die Niederlande und Luxemburg -sollten dabei als Bündnis der Willigen vorangehen, für eine geordnete Aufnahme von Migranten sorgen und so die brenzlige Lage entschärfen. Kugeln und Tränengas sind für die selbsternannte Friedensmacht Europa keine Option. Langfristig aber muss das europäische Trauerspiel um die Verteilung der Flüchtlinge schleunigst ein Ende finden.

Holger Romann, Holger Romann, ARD Brüssel, 02.03.2020 16:49 Uhr
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Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete tagesschau24 am 02. März 2020 um 17:00 Uhr.