Mitarbeiter im neuen Amazon-Logistikzentrum in Helmstedt
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Gewerkschaft ver.di Hat es Amazon auf die Betriebsräte abgesehen?

Stand: 12.04.2023 06:02 Uhr

An mehreren Amazon-Standorten in Deutschland gibt es Konflikte mit ver.di. Die Gewerkschaft vermutet systematische Behinderung. Amazon erklärte, die Rechte der Gewerkschaften zu achten.

Von Sebastian Friedrich und Philipp Hennig, NDR

An drei Amazon-Standorten in Niedersachsen gibt es derzeit Betriebsräte. An diesen drei Standorten befindet sich Amazon in einem Konflikt mit von der Gewerkschaft ver.di organisierten Betriebsräten. In Wunstorf bei Hannover klagt Samuel Onyekachi Atuegbu gegen seinen ehemaligen Arbeitgeber. Atuegbu hatte seit Februar 2021 bei Amazon in Wunstorf gearbeitet und außerdem im vergangenen Jahr den dortigen Betriebsrat mitgegründet. Der befristete Vertrag des ver.di-Mitglieds wurde im Februar dieses Jahres nicht verlängert.

Atuegbu vermutet, dass dies mit seinem Engagement bei ver.di und im Betriebsrat zu tun hat. "Amazon denkt, dass Gewerkschafter schlechte und gefährliche Menschen sind. Amazon möchte nichts mit Gewerkschaften zu tun haben", so Atuegbu im Interview mit dem NDR-Magazin Panorama 3. An seiner Arbeitsleistung habe es nicht gelegen, sagt er und verweist auf gute Rückmeldungen, die er regelmäßig erhalten habe. Außerdem hätten gleichzeitig fast alle seiner Kollegen eine Vertragsverlängerung bekommen.

Amazon bestreitet, dass das Ende des Beschäftigungsverhältnisses mit seinem Engagement im Betriebsrat zu tun hat, möchte sich aber offiziell nicht zu dem konkreten Fall äußern. Schriftlich teilt Amazon dem NDR mit: "Wir kommunizieren klar die Erwartung an Mitarbeitende, dass befristete Verträge ein reguläres Enddatum haben und dass wir nicht vorhersagen können, ob sie verlängert oder umgewandelt werden können."

Ähnliche Fälle an anderen Standorten

Auch in Achim bei Bremen und in Winsen (Luhe), südlich von Hamburg, gibt es aktuell ähnliche Fälle. In Winsen versucht Amazon, sich von Detlev Börs zu trennen. Amazon wirft dem Betriebsratsvorsitzenden Arbeitszeitbetrug vor, weil er an einem Tag einer mehrtägigen Fortbildung nicht gearbeitet haben soll.

Das Betriebsratsgremium hatte der außerordentlichen Kündigung nicht zugestimmt, woraufhin Amazon vor das Arbeitsgericht zog. Dieses gab Amazon Anfang April recht: Börs habe durch seine Nichtteilnahme an Teilen der Fortbildung gegen seine arbeitsvertraglichen Pflichten verstoßen. Börs und ver.di kündigten gleich nach der Verhandlung an, Beschwerde gegen die Entscheidung einzulegen. Bis es ein rechtskräftiges Urteil gibt, ist der Betriebsratsvorsitzende weiterhin angestellt und im Betriebsrat tätig. Börs ist wie Atuegbu in Wunstorf aktives ver.di-Mitglied, ebenso wie Rainer Reising vom Amazon-Standort in Achim bei Bremen.

Anfang März kündigte Amazon Reising fristlos. Ein Grund wurde ihm für seine Kündigung nicht genannt. Auch Reising vermutet, dass die Kündigung mit seiner Gewerkschaftstätigkeit zu tun hat. Reising war bis zu seiner Kündigung nicht nur Mitglied im Betriebsrat und bei ver.di aktiv, sondern auch bei "Amazon Workers International", einem unabhängigen internationalen Zusammenschluss von Beschäftigten, sowie der Kampagne "Make Amazon Pay", die sich weltweit für bessere Arbeitsbedingungen bei Amazon und eine höhere Besteuerung des Konzerns einsetzt.

Heil setzt sich für Betriebsrat ein

Auffällig an Reisings Kündigung ist der Zeitpunkt. Denn kurz zuvor hatte sich Reising öffentlich für Atuegbu in Wunstorf eingesetzt. So besuchte er gemeinsam mit Betriebsratskollegen anderer Standorte den niedersächsischen Ministerpräsidenten Stephan Weil sowie Bundesarbeitsminister Hubertus Heil - auch um den Kollegen aus Wunstorf zu unterstützen.

Heil schrieb Mitte Februar einen Brief an Amazon und warb dafür, die Entscheidung im Falle Atuegbus noch einmal zu überdenken. Heil betonte in dem Brief, der dem NDR vorliegt, dass Betriebsratsmitglieder das Rückgrat der Demokratie im Betrieb seien. Bei dem Besuch bei Heil entstand ein Solidaritätsfoto, auf dem Reising neben Heil zu sehen ist. Knapp drei Wochen später erhielt Reising die fristlose Kündigung.

Mehr gewerkschaftliche Aktivitäten

Nonni Morisse von der Gewerkschaft ver.di vermutet einen Zusammenhang zwischen den drei Fällen. "Für uns sind das keine Einzelfälle mehr. Wenn wir an jedem Standort in Niedersachsen, an dem wir organisierte, gewerkschaftlich orientierte Betriebsräte haben, solche Kündigungsverfahren vorfinden, dann hat das System."

Dass es gerade in Niedersachsen eine Häufung gebe, führt Morisse, der für ver.di die Amazon-Standorte in Niedersachsen und Bremen betreut, auf zunehmendes gewerkschaftliches Engagement zurück. In Winsen habe ver.di seit der Wahl im Mai 2022 eine Mehrheit im Betriebsrat. Dort und am Standort Achim streikten Beschäftigte in den vergangenen Monaten zum ersten Mal. In Wunstorf wurde zum ersten Mal bei einem Verteilzentrum ein Betriebsrat gegründet.

Amazon: Schätzen Zusammenarbeit mit Betriebsräten

Auch zu den konkreten Fällen in Achim und Winsen (Luhe) möchte sich Amazon nicht äußern. Schriftlich heißt es: "Amazon ist ein faires und verantwortungsvolles Unternehmen und fördert den offenen Dialog unter und mit den Mitarbeitenden zu jeder Zeit. Wir schätzen die gute Zusammenarbeit mit den Betriebsräten, die es an zahlreichen Standorten in Deutschland gibt."

Die Sozialwissenschaftlerin Sabrina Apicella hat zum Verhältnis von Amazon zu Gewerkschaften in Deutschland und in Italien geforscht. Es seien nicht die ersten Fälle, bei denen gewerkschaftlich Aktive bei Amazon von Gängelungen sprächen. "Es gibt international zahlreiche Hinweise darauf, dass Amazon betriebliche Gewerkschaftsarbeit behindert", so Apicella im Interview mit dem NDR.

Gleichzeitig seien Betriebsräte bei Amazon-Standorten in Deutschland weit verbreitet. Apicella habe allerdings die Beobachtung gemacht, dass Amazon mit gewerkschaftlichen Betriebsräten konfrontativer umgehe als mit Betriebsräten, die nicht gewerkschaftlich organisiert seien.

"Kündigungen durchziehen"

Das legen auch die Aussagen eines ehemaligen Bereichsleiters nahe, der bis vor etwa einem Jahr an einem Amazon-Standort in Deutschland gearbeitet hat. Im Interview mit Panorama 3 sagt der Mann, der unerkannt bleiben möchte: "Gerade das Thema Gewerkschaft wurde immer sehr kritisch gesehen. In Bereichsleitersitzungen wurden gewerkschaftliche Betriebsräte mit Namen genannt, die wir im Auge behalten sollten. Da ging es wirklich darum, bei denen Kündigungen und Abmahnungen durchzudrücken."

Amazon weist diese Vorwürfe zurück und betont, alle geltenden Rechte der Gewerkschaften zu respektieren und zu achten. "Für Amazon sind die Betriebsräte die wichtigsten Betriebspartner", schreibt Amazon und verweist auf mehr als 380 Betriebsratsmitglieder, die es an zahlreichen Standorten in Deutschland gebe. Das Thema wird Amazon noch eine Weile beschäftigen, denn in allen drei Fällen in Niedersachsen läuft noch eine juristische Auseinandersetzung.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Panorama 3 im NDR am 11. April 2023 um 21:15 Uhr.