Russlands Außenminister Sergei Lawrow steigt nach der Landung auf dem Flughafen Ngurah Rai in Bali aus der Maschine (13. November 2022).
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Ringen um Abschlusserklärung Russlands Strategie beim G20-Gipfel

Stand: 16.11.2022 10:39 Uhr

Geheime russische Verhandlungsdokumente und interne Kommunikation, die der NDR einsehen konnte, zeigen, wie Russland im Vorfeld des G20-Gipfels versucht hat, seine Sicht auf den Krieg gegen die Ukraine durchzusetzen. 

Von Von Mareike Aden und Volkmar Kabisch, NDR 

Ende September, rund sieben Wochen vor Beginn des G20-Gipfels auf Bali, sieht Konstantin* Russland schon auf der Zielgerade und schreibt eine Nachricht. Als Mitglied der Delegation, die für Russland an den G20-Vorverhandlungen teilnimmt, fühle er, dass "wirklich etwas passiert". Seine Kollegin und er würden "von den Westlern dauernd umworben".

Immer wieder betonten Vertreter westlicher Staaten dabei, so Konstantin, wie wichtig es sei, sich auf eine Abschlusserklärung zu einigen. Ans Ende seiner Nachricht setzt er vier schließende Klammern - unter Russischsprechenden üblich anstelle von lachenden Emojis. Die Nachricht geht an Juriy*, der ihm vorgesetzt ist und offenbar im russischen Außenministerium arbeitet.

Ringen um entschärfte Abschlusserklärung

Seit Monaten wird hinter den Kulissen um eine Abschlusserklärung des G20-Gipfels in Bali gerungen, einem der wichtigsten politischen Gipfel der Welt. Geheime russische Verhandlungsdokumente und Chatverläufe zwischen Mitgliedern der russischen Verhandlungsdelegation, die Reporter des NDR einsehen konnten, legen Russlands Strategie offen und zeigen, dass die Verhandler lange alles daran setzten, Begriffe wie "Ukraine" oder "Krieg" aus der Abschlusserklärung des Gipfels herauszuhalten. Dafür wollten sie auch die engen Kontakte zu angeblichen Verbündeten wie China, Indien oder Brasilien nutzen.

Der Inhalt der Dokumente, die genannten Namen und der zeitliche Ablauf sind plausibel, auch wenn sich ihr konkreter Wahrheitsgehalt nicht final überprüfen lässt. Formulierungen aus einem Entwurf der Abschlusserklärung etwa, den die Verhandler untereinander austauschten, stimmen mit denen aus einem später veröffentlichten Entwurf überein.

Diplomatie hinter den Kulissen

Bei solchen Gipfeln ist es üblich, dass alle Teilnehmerstaaten über Wochen oder sogar Monate um eine finale Gipfelerklärung ringen. Zumeist versuchen alle Länder, eine gemeinsame Erklärung zu erreichen und trotzdem wichtige eigene Aussagen unterzubringen, ohne die anderen Teilnehmer vor den Kopf zu stoßen.

Vor allem der Gastgeber, auf Bali ist das Indonesien, versucht, eine Abschlusserklärung zu ermöglichen. Auch die russische Delegation ist daran interessiert, einen Kompromiss zu finden. So schreibt Juriy an seinen Kollegen: "Wichtig ist für uns nur ein Satz: dass die Staaten an ihre eigenen Positionen in Bezug auf die ukrainische Sache erinnern." So finde keine einseitige Schuldzuweisung statt. "Das wäre ein sehr schöner Ausgang. Aber wer weiß, ob die Westler sich darauf einlassen", so Juriy weiter.

Zum Zeitpunkt des Austausches zwischen den beiden Männern setzt die russische Seite darauf, dass zumindest die russische Verantwortung für den Krieg nicht Eingang in die Abschlusserklärung findet.

Westen soll Teilverantwortung übernehmen

Es lässt sich darüber hinaus auch auf die allgemeine Verhandlungsposition Russlands aus den vom NDR eingesehenen Unterhaltungen schließen: Russland sei bereit, die Ukraine zu thematisieren, wenn der Westen seine Verantwortung für das Geschehene übernehme und zudem bereit sei, über die gegen Russland verhängten Sanktionen zu reden.

Konstantin, der Mann im Verhandlungsteam, kommt im Chat zu der Einschätzung: Wie flexibel die Länder auf Bali sein werden, werde stark von der aktuellen Situation abhängen, die dann in der Ukraine herrsche. Das russische Außenministerium ließ eine Anfrage des NDR unbeantwortet.

Doch kurz nach Konstantins optimistischen Nachrichten macht sich bei ihm Skepsis breit. "Die Westler spielen ein doppeltes Spiel", schreibt er seinem Vorgesetzten Juriy in einer langen Nachricht mit acht Unterpunkten. "Auf den Korridoren machen sie weiter mit dem Brückenbauen, bringen Möglichkeiten ins Spiel einen Kompromiss zu finden: dass man eine Formulierung finden könne, ohne Russland zu verurteilen." 

Aber anders sähe es auf dem "offiziellen Track" - also im offiziellen Teil aus: Dort würden die Vertreter des Westens weiter ihre Linie durchdrücken, dass es Formulierungen wie "der aggressive Krieg Russlands" und einem Hinweis auf die "Verurteilung und Übernahme der Verantwortung Russlands" in der Abschlusserklärung brauche. Zum Glück, referiert Konstantin weiter, würden die Schwellenländer "bisher selbstsicher auf den Druck [des Westens] reagieren".  

Hoffen auf vermeintliche Verbündete

Aus dem Chatverlauf der beiden Männer wird deutlich, wie sehr Russland bei der Durchsetzung seiner Ziele im Vorfeld des G20-Gipfels auf die Länder des sogenannten BRICS-Staatenverbundes - benannt nach den Anfangsbuchstaben der zugehörigen Länder Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika - setzte.

Doch offenbar gab es auch Frustration: Im Verlauf der Unterhaltung beschwert sich Konstantin mit einigen Kraftausdrücken bei seinem Vorgesetzten im russischen Außenministerium darüber, dass die anderen BRICS-Länder den von Russland vorgeschlagenen Formulierungen in Bezug auf die Ukraine nicht ausreichend folgen würden. Die russischen Verhandler hatten etwa die Formulierung  "eine Vielfältigkeit von Konflikten" vorgeschlagen, anstatt den Ukraine-Krieg im Abschlusspapier direkt zu erwähnen.

Informelle Kontakte "fast wie früher"

In Bezug auf die Stimmung hinter den Kulissen sind weitere Hinweise im Chatverlauf zu finden. Trotz Klagen über das "doppelte Spiel" des Westens, stellt Konstantin fest: "Unsere Kontakte mit den Westlern verlaufen normal, es gibt geschäftlichen Gespräche und freundschaftliche Unterhaltungen, fast wie früher.” Eine Ausnahme seien jedoch die Australier und Deutschen. "Sogar mit den Amerikanern stellt sich eine glatte Kommunikation ein, manchmal sogar eine formlose." Weiter berichtet er: "Vor dem Mikrofon" würden vor allem die Deutschen und Franzosen "scharf" agieren.

 

Die Ernüchterung scheint sich aber innerhalb nur weniger Tage zu festigen: "Die Westler bestehen weiterhin darauf, dass es wichtig ist, dass das Thema [Ukraine] sich in allen 'relevanten' Paragrafen widerspiegelt", auch wenn es um Energie gehe. Ziel sei "der Versuch sich vor den eigenen Bürgern zu rechtfertigen für Energiepreise und das Handelsdefizit". Hinter den Kulissen würden die westlichen Vertreter daraus auch kein Geheimnis machen, berichtet Konstantin gen Heimat.  

"Oh, der Krieg ist drin"

Ende Oktober teilt er mit seinem Vorgesetzten schließlich den dritten Entwurf der englischsprachigen Deklaration, den der NDR ebenfalls einsehen konnte. "Oh, der Krieg ist drin" schreibt er dazu - in Bezug auf eine Formulierung im zweiten Absatz, in der allerdings Russland nicht beschuldigt wird. Doch sein Vorgesetzter gibt sich da noch optimistisch: "Na ja, bisher, für die Optik." 

Auch während des Gipfels ging das Ringen um die Abschluss-Deklaration weiter. In der finalen Erklärung finden sich schließlich die Worte "Krieg in der Ukraine“. Dieser werde zudem von den "meisten Mitgliedern aufs Schärfste verurteilt". Allerdings gibt es durch die Gipfelteilnehmer keine direkte Schuldzuweisung gegenüber Russland. Lediglich eine Erwähnung einer früheren UN-Resolution findet Eingang, die die russische Aggression thematisiert. Zudem findet sich der Hinweis, dass es unter den G20-Mitgliedern auch andere Sichtweisen auf die aktuelle Situation und die Sanktionen gebe.

 *Name ist der Redaktion bekannt und wurde geändert

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichteten die tagesthemen am 15. November 2022 um 22:20 Uhr.