Armut in Deutschland Ansturm bei den Tafeln - 178.000 im Notquartier

Stand: 14.07.2022 17:10 Uhr

Zwei aktuelle Statistiken zeichnen ein düsteres Bild der sozialen Lage in Deutschland: Die Tafeln versorgen derzeit so viele Menschen wie noch nie - und das Bundesamt legte erstmals Zahlen zu Wohnungslosen vor, die bitter sind.

Die Zahl der Menschen, die von den Tafeln in Deutschland als Kunden geführt werden, ist deutlich angestiegen. Aufgrund von Inflation, Pandemie und Kriegsfolgen habe sie sich seit Jahresbeginn um etwa die Hälfte erhöht, erklärte der Vorsitzende der Tafel Deutschland, Jochen Brühl. Mittlerweile würden deutlich mehr als zwei Millionen von Armut betroffene Menschen in Deutschland die Angebote wie kostenlose Lebensmittel nutzen. Dies seien so viele Bezieher wie nie zuvor.

"Die Tafeln sind am Limit und berichten uns, dass viele Menschen zu ihnen kommen, die bisher gerade so über die Runden gekommen sind und zum ersten Mal Hilfe in Anspruch nehmen müssen", so Brühl. Jede dritte Tafel musste den Angaben zufolge einen Aufnahmestopp einführen. Es fehlten Lebensmittel oder Ehrenamtliche, um allen zu helfen, die nach Unterstützung fragten.

Der Dachverband hat nach eigenen Angaben im Juni und Juli 962 Mitglieds-Tafeln befragt, 603 Tafeln hätten sich an der Umfrage beteiligt. Einen Rückgang der Kunden verzeichnete demnach praktisch keine Tafel. Etwa 60 Prozent gaben an, dass sich ihre Kundschaft seit Jahresbeginn um bis zu 50 Prozent erhöht habe. Knapp ein Viertel bezifferte den Zuwachs auf 50 bis 100 Prozent. Gut 16 Prozent sagten sogar, die Zahl ihrer Kundinnen und Kunden habe sich verdoppelt oder mehr als verdoppelt.

"Schluss mit der Gießkanne" der Entlastungspakete

Die Tafeln sammeln überschüssige Lebensmittel von Händlern und Herstellern und verteilen diese. Kunden sind nach Angaben des Verbands unter anderem viele Arbeitslose, Geringverdiener sowie Rentnerinnen und Rentner - also Gruppen, die besonders stark von der Inflation betroffen sind.

Der Verbandsvorsitzende Brühl forderte die Bundesregierung auf, dringend ein neues Hilfspaket vorzulegen. Von dem bisherigen Entlastungspaket der Bundesregierung komme der geringste Teil bei armutsbetroffenen Menschen an. Nötig seien jetzt gezielte Soforthilfen für arme Menschen, "Schluss mit der Gießkanne", so Brühl.

Geflüchtete oft zu den Tafeln geschickt

Zum klassischen Kundenkreis der Tafeln hinzugekommen sind in den vergangenen Monaten viele Geflüchtete aus der Ukraine. Der Tafel-Verband übte in diesem Zusammenhang auch deutlich Kritik an den Behörden. Sie würden Geflüchtete weiterhin ohne Rücksprache an die Tafeln verwiesen. Besonders bei vielen Menschen aus der Ukraine sei der falsche Eindruck entstanden, die Tafeln seien ein staatliches Angebot, auf das Anspruch bestehe. 

600.000 Arme mehr als vor der Pandemie

Experten und Verbände hatten zuletzt immer wieder darauf hingewiesen, dass die Zahl der Menschen in Deutschland, die von Armut betroffen sind, wächst - auch als Folge von Corona und dem daraus resultierenden Wirtschaftseinbruch. Laut "Armutsbericht" des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes leben im 83-Millionen-Einwohner-Land Deutschland inzwischen 13,8 Millionen Menschen unterhalb der - statistisch definierten - "Armutsquote". Das sind etwa 600.000 mehr als vor der Pandemie.

"Die Befunde sind erschütternd, die wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie schlagen inzwischen voll durch", sagte der Hauptgeschäftsführer des Wohlfahrtsverbands, Ulrich Schneider, bei der Vorstellung des Berichts Ende Juni. Noch nie habe sich die Armut in jüngerer Zeit so rasant ausgebreitet wie in der Pandemie. Angesichts der aktuell hohen Inflationsrate rechnet der Verband mit einer weiteren Verschärfung der Lage.

178.000 leben in Notunterkünften

Am untersten Ende der "Armutsskala" sind wohl die Menschen, die noch nicht einmal ein Dach über dem Kopf haben. Wie viele es davon in Deutschland gibt, lässt sich nur schätzen - denn statistisch erfasst werden sie bislang nicht. Das Statistische Bundesamt hat aber nun zumindest für eine Teilgruppe von ihnen erstmals Daten vorgelegt: für diejenigen, die in Not- und Gemeinschaftsunterkünften oder in vorübergehenden Quartieren leben. Das Amt gibt ihre Zahl mit 178.000 an. Das entspricht in etwa der Einwohnerzahl einer Großstadt wie Saarbrücken oder Potsdam.

Knapp zwei Drittel der Untergebrachten sind demnach Männer, gut ein Drittel Frauen. 37 Prozent sind jünger als 25 Jahre, knapp fünf Prozent 65 Jahre alt oder älter. Familien oder Alleinerziehende mit Kindern machen 46 Prozent der Fälle aus. Erfasst wurden den Angaben zufolge Menschen, die zum Stichtag 31. Januar 2022 in Räumen oder Übernachtungsgelegenheiten lebten, die ihnen von Gemeinden oder mit Kostenerstattung durch andere Träger von Sozialleistungen zur Verfügung gestellt wurden.

Nicht erfasst wurden dabei Wohnungslose, die bei Freunden, Familien oder Bekannten unterkommen, und Obdachlose, die auf der Straße leben. Fälle von Flüchtlingen flossen nur ein, wenn sie einen positiven Asylbescheid hatten und durch das Wohnungsnotfallhilfesystem untergebracht waren.

"Besser als bisherige Schätzungen"

"Die jetzt veröffentlichten Zahlen sind ein wichtiger Schritt und besser als bisherige Schätzungen", sagte die stellvertretende Hauptgeschäftsführerin des Deutschen Städtetags, Verena Göppert. Um auch verdeckte Formen von Wohnungslosigkeit, etwa das Unterkommen bei Bekannte, und die Obdachlosigkeit auf der Straße überblicken zu können, hat das Bundessozialministerium nach eigenen Angaben eine repräsentative Studie in Auftrag gegeben. Zahlen dazu sollen in diesem Herbst vorliegen.

Schätzungen gibt es bereits heute. Die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe beziffert die Zahl wohnungsloser Menschen in Deutschland auf rund 233.000.

17.06.2022 17:32 Uhr