Interview

Extremismus-Expertin zu Pro NRW und Salafismus "Die Salafisten sind Wahlhelfer für Pro NRW"

Stand: 09.05.2012 19:51 Uhr

Von so viel medialer Aufmerksamkeit konnte Pro NRW nur träumen. "Das aggressive Verhalten der radikalen Salafisten, spielt ihnen so kurz vor der Wahl in die Hände", sagt Extremismusexpertin Claudia Dantschke im Interview mit tagesschau.de. Für die Salafisten hingegen sei der Schuss nach hinten losgegangen.

tagesschau.de: Seit dem vergangenen Wochenende beherrschen die Themen Salafismus und Pro NRW die öffentliche Diskussion. Spielt die Aufmerksamkeit den beiden Gruppen in die Hände?

Claudia Dantschke: Pro NRW hat sicher genau darauf spekuliert. Einen solchen medialen Hype hätten sie ohne diese Provokation nie geschafft. Sie sind ja eine marginale Gruppierung, ihr Mobilisierungspotenzial ist relativ gering. Im Grunde haben die radikalen Salafisten Wahlwerbung für Pro NRW gemacht. Denn Pro NRW geht es ja darum, der Bevölkerung vorzuführen, dass "der Islam" radikal ist. Und das Tragische dabei ist, genau das ist ihnen zum Teil gelungen. Die radikalen Salafisten haben ihnen genau diese Bilder geliefert.

Zur Person

Claudia Dantschke ist Extremismus-Expertin und arbeitet am Zentrum Demokratische Kultur für eine Beratungsstelle, die Angehörigen von militanten Dschihadisten sowie Aussteigern zur Seite steht. Nach ihrem Studium der Arabistik arbeitete sie als freie Journalistin, unter anderem für eine deutsch-türkische Fernsehanstalt.

tagesschau.de: Und die Salafisten? Was wollten sie mit der Aktion bezwecken?

Dantschke: Auch die gewaltbereiten Salafisten hatten gehofft, davon zu profitieren. Aber in der Tat haben sie sich verspekuliert. Sie wollten die Provokation von Pro NRW nutzen, um "die Muslime" in Deutschland und in aller Welt hinter sich vereinen zu können. Sie wollten sich als Vertreter des "einzig wahren Islam" an ihre Spitze stellen. Aber da sind sie massiv gescheitert. Das Gegenteil ist passiert: Innerhalb der salafistischen Szene sind sie unter massiven Druck geraten.

Koranverteilung als PR-Aktion

tagesschau.de: Welches Kalkül haben die Salafisten mit den Koran-Verteilungen verfolgt?

Dantschke: Diese Koran-Verteilungen sind der Versuch einer marginalen, radikalen Gruppe gewesen, über etwas Harmloses, allgemein Akzeptiertes, Aufmerksamkeit zu bekommen und sich zu profilieren. Das hat dank des Medienhypes funktioniert. Es gab unter salafistischen Strömungen massiven Zuspruch für diese Aktion, weil man nicht differenziert hat. Koran-Verteilung fand man gut, aber wer dahinter steht und was damit bezweckt werden soll, hat man nicht gefragt.

Das hat den radikalen Salafisten, die für die Koran-Verteilung verantwortlich sind, Auftrieb gegeben. Sie konnten sich in der Öffentlichkeit als die vermeintlich "wahren" Muslime präsentieren. Und in diesen ganzen Medienhype kamen die Informationen über die von Pro NRW geplante Provokation. Und dann dachten die radikalen Salafisten, dass sie jetzt aufs Ganze gehen können. Sie wollten sich als Speerspitze des muslimischen Widerstands in der Welt darstellen und meinten deshalb, so aggressiv vorgehen zu können.

"Mit Religion hat das wenig zu tun"

tagesschau.de: Gibt es eine größere Strategie, die hinter beiden Aktionen steckt?

Dantschke: Letztlich steckt dahinter die Sehnsucht nach Aufmerksamkeit und Bedeutung. Man empfindet sich als eine weltweit unterdrückte Bewegung und will gegen diese Unterdrückung ankämpfen. Mit Religion hat das wenig zu tun.

Im aktuellen Fall ist man davon ausgegangen, dass die Provokation der Karikaturen und die Bilder des aggressiven Polizeieinsatzes gegen die Salafisten dazu führen würden, in der islamischen Welt, Muslime zu mobilisieren. Man hat also auf einen ähnlichen Effekt wie nach der Veröffentlichung der Mohammed-Karikaturen einer dänischen Zeitung 2006 gehofft. Auf weltweite Proteste, einen Schulterschluss der Muslime und Aufrufe zur Gegenwehr. Aber die Reaktionen aus der arabisch-islamischen Welt sind gleich Null. Muslime dort haben inzwischen ganz andere Probleme. Inzwischen gab es den arabischen Frühling und die Leute können für ihre eigenen Belange demonstrieren und brauchen nicht mehr Karikaturen als Vorwand, um auf die Straße zu gehen.

tagesschau.de: Was ist denn das langfristige Ziel der Salafisten?

Dantschke: Die Salafisten sind ja keine homogene Bewegung, sondern ein Sammelbegriff für verschiedene islamistisch-fundamentalistische Strömungen. Nur eine dieser Strömungen - eben die, die hinter den Koran-Verteilungen steht - ist gewaltbereit. Diesen radikalen Kreisen geht es um eine Spaltung der Gesellschaft in zwei Blöcke: "die Muslime" -  und die Feinde des Islam, die Ungläubigen. Wobei "die Muslime" begreifen sollen, dass die Salafisten die Vertreter des "wahren Islam" sind und die Ungläubigen zum Islam gebracht werden sollen.

"Über das Internet haben sie starken Einfluss auf Jugendliche"

tagesschau.de: Welche Bedeutung haben denn die rund 4000 Salafisten innerhalb Deutschlands?

Dantschke: Diese Zahl spiegelt die eigentliche Bedeutung des Salafismus in Deutschland nicht wider. Die verschiedenen Gruppierungen sind hierzulande und auch über Deutschland hinaus vor allem deshalb bedeutungsvoll, weil sie über das Internet einen starken Einfluss auf Jugendliche haben.

Jugendliche sind auf der Suche nach Antworten, auch nach religiösen Antworten. Und die bekommen sie von den Imamen in den Moscheen nicht, weil die nicht in einer Art und Weise sprechen, die die Jugendlichen erreicht. Also gehen sie ins Internet und dort landet man dann relativ schnell auf salafistischen Seiten. Dort wird ihre Lebenssituation aufgegriffen. Es wird erklärt, warum sie sich allein und ausgeschlossen fühlen: 'Weil du Muslim bist, weil der Islam siegen wird und das wollen die anderen verhindern'. Sie finden dort eine klare Identität, ein schwarz-weißes Weltbild, einen vermeintlichen Sinn im Leben: 'Setz dich für Islam ein und hoffe auf ein Leben im Paradies'.

"Rufe nach Ausweisung sind der falsche Weg"

tagesschau.de: Wie kann und sollte der Staat auf sie reagieren?

Dantschke: Rufe nach Ausweisungen sind der völlig falsche Weg. Zunächst mal sind viele ohnehin Herkunftsdeutsche oder deutsche Staatsbürger. Außerdem tut man damit so, als ob das ein Problem sei, das von außen gekommen ist und das man nur wieder nach außen abschieben müsse. Das stimmt aber nicht, das Problem ist hausgemacht. Es hat mit der Lebenssituation der Jugendlichen verschiedenster Herkunft in Deutschland zu tun.

tagesschau.de: Würde ein Verbot salafistischer Gruppierungen etwas nützen?

Dantschke: Von einer reinen Verbotsdiskussion halte ich nichts. Natürlich kann man überlegen, ob man besonders radikalen Gruppierungen ein Betätigungsverbot gibt.  Aber das wird nicht viel nützen, denn die radikalen Salafisten treten ja nicht als Verein oder juristische Person auf. Man könnte ihnen verbieten als Gruppierung unter einem bestimmten Namen aufzutreten, aber dann würden sie eben in anderen Zusammensetzungen oder einzeln weitermachen.

Gerade jetzt haben pauschale Verbotsdiskussionen hier eher einen negativen Effekt. Sie führen dazu, dass sich eine Opfergemeinschaft formiert, die Reihen werden wieder geschlossen, weil man versuchen wird, das als Angriff auf "die Muslime" darzustellen.

"Es braucht Netzwerke auf kommunaler Ebene"

tagesschau.de: Welche Möglichkeiten gibt es stattdessen, bei dieser Radikalisierung gegenzusteuern?

Dantschke: Das geht nur auf kommunaler Ebene. Im Grunde kann man da vom Umgang mit Rechtsextremismus lernen. Man kennt ja die Dorf- und Familienfeste, die die NPD immer wieder im ländlichen Raum veranstaltet. Die verbietet man aber auch nicht einfach, sondern versucht stattdessen, aufzuklären, wer dahinter steckt. Hier ist es - genauso wie bei den radikalen Salafisten - notwendig auf die Zielgruppe solcher Bewegungen zuzugehen und das Problem bei der Wurzel zu packen.

In beiden Fällen sind Jugendliche die Zielgruppe. Für sie muss man andere Betätigungsfelder finden: Jugendsozialarbeit, Integrationsarbeit, aber auch die Auseinandersetzung mit Ideologien. Es muss sich ein Netzwerk bilden aus Moscheegemeinden, Migrantenvereinen, dem Jugendamt, sozialen und politischen Trägern. Man muss den Jugendlichen einen Platz in der Gesellschaft geben, dann sind sie für radikale Strömungen nicht mehr anfällig.

Das Interview führte Sandra Stalinski, tagesschau.de.