Hände mit Abstimmungskarten an einer Urne im Bundestag
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Bundestag zur Sterbehilfe Eine lebensentscheidende Frage

Stand: 06.07.2023 16:53 Uhr

Im Bundestag sind Vorschläge für ein neues Sterbehilfe-Gesetz gescheitert. Die Debatte war für die Abgeordneten ein Balanceakt zwischen dem Schutz der Selbstbestimmung und dem Schutz des Lebens. Am Ende blieb der Graubereich.

Eine Analyse von Nadine Bader, ARD Berlin

Es ist eine emotionale Debatte, die heute im Bundestag geführt wird. Noch nie habe sie so voller Demut am Rednerpult gestanden, sagt etwa Katrin Helling-Plahr. Sie habe auch noch nie eine Rede gehalten, die so wichtig sei für so viele Menschen. Die FDP-Politikerin ist Fachanwältin für Medizinrecht. Ihre Haltung zum Thema Sterbehilfe verdeutlicht sie mit Schicksalen, die sie in ihrem Berufsalltag miterlebt habe.

Sie verweist auf schwer kranke Menschen, die sich an das zuständige Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) in Bonn gewandt hätten, um Betäubungsmittel zur Selbsttötung erhalten zu dürfen. Alle Anträge seien abgelehnt worden. Diese Menschen seien allein gelassen worden, so Helling-Plahr. Sie wirbt für eine gesetzliche Regelung, die Sterbehilfe ermöglicht. Ärzte sollen demnach Volljährigen Arzneimittel zur Selbsttötung verschreiben dürfen - nach einer Beratung und grundsätzlich außerhalb des Strafrechts geregelt.

Karlsruher Urteil mit Sprengkraft

Es geht heute also um eine bedeutende und lebensentscheidende Frage im Bundestag: Soll jemand, der sein Leben beenden möchte, dabei legal von einer anderen Person unterstützt werden dürfen? Ja, entschied das Bundesverfassungsgericht im Jahr 2020 und kippte damit das Verbot der "geschäftsmäßigen" Sterbehilfe.

"Geschäftsmäßig" hat dabei nichts mit Geld zu tun, sondern bedeutet "auf Wiederholung angelegt". Es war ein Urteil mit Sprengkraft, das die fünfjährige Geltung eines zuvor neu geschaffenen Paragrafen 217 im Strafgesetzbuch beendete. Eine gesetzliche Neuregelung ist zwar nicht zwingend nötig. Aber die Karlsruher Richter legten dem Parlament nahe, ein Schutzkonzept zu verabschieden, um Missbrauch zu verhindern.

Balanceakt für die Abgeordneten

Für die Bundestagsabgeordneten heißt das: eine Balance finden zwischen dem Schutz der Selbstbestimmung und dem Schutz des Lebens. Fraktionsübergreifend hatten Abgeordnete außer der AfD zwei Gesetzentwürfe ausgearbeitet. Der Unterschied der Entwürfe liegt in den Vorgaben und Details der Beratung, vor allem aber in der Strafandrohung: Wenn Beratungspflichten nicht eingehalten werden, soll es dem strikteren Entwurf entsprechend bei der Strafbarkeit der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung bleiben. Der konkurrierende, liberalere Entwurf sieht auch hier keine Strafbarkeit mehr vor.

Der SPD-Abgeordnete Lars Castellucci hält das für falsch. Er wirbt dafür, dass Sterbehilfe wieder im Strafrecht verankert wird. Die geschäftsmäßige, also organisierte Sterbehilfe soll demnach verboten sein. Nur in Ausnahmen, wenn bestimmte Beratungspflichten und Wartezeiten eingehalten werden, soll sie erlaubt sein. Dazu gehören mindestens zwei Untersuchungen durch Fachärztinnen und Fachärzte für Psychiatrie und Psychotherapie sowie mindestens eine weitere Beratung. Bei Verstößen drohen Freiheitsstrafen von bis zu drei Jahren. Ein Schutzkonzept, das keine Konsequenzen habe, sei kein Schutzkonzept, sagt Castellucci mit Blick auf den Entwurf von der Abgeordnetengruppe um die FDP-Politikerin Helling-Plahr.

Ob einer der beiden Gesetzentwürfe eine Mehrheit erhalten wird, ist zu Beginn der Debatte unklar. Der Entwurf der Gruppe um Castellucci hat auch bei der Union Unterstützer. Ihm werden mehr Chancen zugerechnet. Alle drei Redner von CDU und CSU sprechen sich jedenfalls für die restriktivere Regelung aus, so auch Stephan Pilsinger.

Der CSU-Abgeordnete verweist auf seine Arbeit als Hausarzt. Er betreue auch Altenheime, in denen Sterbehilfevereine tätig seien. Die Bewohner würden dort angesprochen mit der Frage, ob sie ihren Angehörigen noch weiter zur Last fallen wollen. Aus seiner Sicht ist das ein unhaltbarer Zustand. Er befürchtet, dass vulnerable Menschen wie Ältere oder Kranke durch eine zu liberale Regelung Druck ausgesetzt werden könnten. Deshalb plädiert Pilsinger dafür, den assistierten Suizid zwar zu ermöglichen und den derzeit ungeregelten Zustand zu beenden, aber mit einem klaren Schutzkonzept und verankert im Strafrecht wie im Entwurf von Castellucci vorgesehen.

Weiter im ungeregelten Zustand

Am Ende bekommt aber keiner der beiden Vorschläge eine Mehrheit. In namentlichen Abstimmungen erhält der Entwurf um den Abgeordneten Castellucci 304 Ja-Stimmen, 363 Abgeordnete stimmen dagegen. Für den Vorschlag der Gruppe um Helling-Plahr sprechen sich 287 Abgeordnete aus, 375 sind dagegen.

Schade, sagt Renate Künast. Die Grünen-Politikerin hatte sich für den liberaleren Vorschlag ausgesprochen. Sie sei zwar froh, dass der Vorschlag von Castellucci mit der Regelung im Strafrecht nicht durchgekommen sei. Aber sie findet nicht gut, dass Suizidassistenz somit weiter unreguliert möglich ist.

Ähnlich sieht das der FDP-Abgeordnete Benjamin Strasser, der sich für den restriktiveren Entwurf eingesetzt hatte. Die Betroffenen seien jetzt weiterhin einem Graubereich von undurchsichtigen Sterbehilfeorganisationen ohne Schutzkonzept ausgesetzt, sagt Strasser. Seine Gruppe habe trotz der Ablehnung mit Abstand die meisten Stimmen der Abgeordneten erhalten. Deshalb wolle man mit etwas Abstand zu den heutigen Entscheidungen beraten, ob und wie man einen neuen Anlauf in der Legislaturperiode unternehmen werde.

Suizidprävention soll gestärkt werden

Auch der Bundesgesundheitsminister bedauert, dass heute keiner der Anträge eine Mehrheit bekommen hat. Karl Lauterbach hatte als Abgeordneter den liberaleren Entwurf favorisiert. Als Minister sieht er sich nun in der Pflicht, an einem nationalen Suizidpräventionsplan zu arbeiten.

Denn einig sind sich die Abgeordneten heute dann doch an einer Stelle: Die Suizidprävention soll gestärkt werden. Mit großer Mehrheit fordern die Abgeordneten die Bundesregierung dazu auf, eine entsprechende Strategie vorzulegen. Die solle garantieren, dass Menschen mit Suizidgedanken und Angehörige schnell online oder telefonisch Hilfe erhalten. Mittels Telefonseelsorge und sozialpsychiatrischer Dienste soll ein bundesweiter Suizidpräventionsdienst aufgebaut werden. Die Anregungen der Abgeordneten wolle er aufnehmen, sagt Lauterbach und bereits nach der Sommerpause einen Plan vorlegen.