Der bayerische Ort Hebertshausen.
reportage

Hebertshausen Ein Dorf ohne Panik

Stand: 12.10.2023 19:36 Uhr

Die bayerische Gemeinde Hebertshausen hat in den vergangenen Monaten mehr als fünfmal so viele Geflüchtete aufgenommen wie vorgesehen. Sorgen bereitet das dort kaum jemandem. Warum?

Von Julius Baumeister und Herbert Kordes, WDR

Im Inneren des ehemaligen Supermarkts der Gemeinde Hebertshausen im bayerischen Landkreis Dachau trennen Security-Männer Betten mit Bauzäunen voneinander ab, ordnen Tische und schieben Stühle über den Boden. Draußen auf dem Parkplatz stehen weitere Männer in dunkler Uniform, andere in Jeans. Sie alle erwarten die Ankunft eines Busses - mal wieder. Der Bus bringt alle zwei Wochen etwa 50 Geflüchtete in die Erstaufnahme der Gemeinde. Von hier werden die Menschen später auf andere Unterkünfte im gesamten Landkreis verteilt.

Bilder ankommender Busse und überfüllter Erstaufnahmeeinrichtungen beschäftigten in diesen Wochen Länder und Kommunen in ganz Deutschland. Überall im Land schlagen Bürgermeister und Landräte Alarm, schreiben Brandbriefe, weil sie die Geflüchteten nicht mehr unterbringen können.

Auch in Hebertshausen, eine halbe Autostunde von München entfernt, sind die Unterkünfte voll, immer mehr Menschen kommen. Aktuell leben hier 234 Geflüchtete - etwa 190 Menschen mehr, als der kleine Ort mit seinen gut 6.000 Einwohnern nach dem Verteilungsschlüssel eigentlich aufnehmen müsste. Doch Alarm schlägt hier niemand.

Ein junger Mann steht in einer Bäckerei.

Alio Diallo hat in der Bäckerei von Thomas Polz Arbeit gefunden.

Schicksale, Herausforderungen - und Chancen

Richard Reischl ist der Bürgermeister der Gemeinde, CSU-Mitglied. An diesem Donnerstagmorgen begrüßt er die ankommenden Männer, die samt Gepäck langsam aus dem Bus steigen. Ihm sei nicht bange, wenn er wüsste, dass einige der Neuankömmlinge auch länger in Hebertshausen bleiben würden, sagt er im Interview mit dem ARD-Magazin Monitor. Er sehe die Schicksale der Menschen, auch die Herausforderung der Integration, vor allem aber eines: die Chancen. 

Chancen, das heißt in Hebertshausen vor allem: Arbeit. Für Aliou Diallo beginnt diese Arbeit oftmals schon um 3 Uhr morgens. Diallo kam aus Senegal nach Bayern, jetzt macht er eine Ausbildung zum Bäcker.

Sein Chef ist Thomas Polz. Auch er sieht in der Zuwanderung eine Chance, dem immer größer werdenden Fach- und Hilfskräftemangel entgegenzuwirken. Polz beschäftigt heute 90 Menschen aus 14 Nationen in seiner Backstube. Er sagt, es sei egal, dass viele von ihnen zu Beginn ihrer Beschäftigung nur schlechtes Deutsch sprechen: "Im Handwerk lernt man mit den Augen."

Die Arbeitszeiten sind für Diallo kein Problem, sagt er. Vor seiner Flucht war er Fischer, fuhr nachts mit dem Boot auf den Atlantik. Jetzt backen er und etliche andere Geflüchtete in der Bäckerei Brot, Kuchen und Brezeln für die Bewohner der Gemeinde. Für den Familienbetrieb ist das existenziell: "Uns gäbe es gar nicht mehr, wenn wir nicht die vielen Leute aus anderen Ländern beschäftigen würden", sagt Juniorchef Simon Polz.

Der örtliche Helferkreis kümmert sich

Laut Bürgermeister Reischl sind - so wie Diallo - rund 90 Prozent der in Hebertshausen lebenden Asylbewerber in Bildungsprogrammen oder bereits in Arbeit gebracht worden. Sie arbeiten im Supermarkt der Gemeinde, in der Fleischerei, auf dem Reiterhof. Zudem engagieren sich viele der Geflüchteten mittlerweile ehrenamtlich, spielen im Fußballverein, helfen bei der Sanierung der öffentlichen Spielplätze.

Ziel müsse sein, die Menschen zu beschäftigen und so schnell wie möglich in den Arbeitsmarkt zu integrieren, sagt auch Peter Barth. Barth ist Vorsitzender des örtlichen Helferkreises und macht das, was nach der Vorstellung von Bürgermeister Reischl eigentlich eine staatliche Aufgabe wäre: Er kümmert sich.

Der Rentner fährt jeden Tag mit dem Fahrrad in eine der Asylunterkünfte der Gemeinde, hilft den Bewohnern bei Amtsschreiben, besichtigt Wohnungen, begleitet sie zu Arztbesuchen oder unterstützt sie bei der Jobsuche. Barth ist für die Geflüchteten erster Ansprechpartner und so etwas wie ihr wichtigster Lobbyist in der Gemeinde.

Fragt man Hebertshausens Bewohner nach dem Zusammenleben mit den Neuankömmlingen, verweisen viele auf die ehrenamtliche Arbeit von Barth und den Helferkreis: "Die machen das schon ganz gut", "die kümmern sich",  heißt es dann. Schlechtes hört man selten.

Bürgermeister Richard Reischl steht vor geflüchteten Menschen in Hebertshausen.

Richard Reischl, der Bürgermeister von Herbertshausen, sieht die Schicksale der Menschen und auch die Herausforderung der Integration - aber er sieht auch die Chance.

Sinkende Kriminalitätszahlen

Nicht nur in der Bäckerei, auch in anderen Branchen, in denen deutschlandweit Arbeitskräfte gesucht werden, finden Geflüchtete in Hebertshausen eine Zukunft. Turyale Perzadah kam 2015 aus Afghanistan nach Deutschland und arbeitet heute in einem Altenheim im Landkreis Dachau. Er hat einen unbefristeten Arbeitsvertrag und verdient sein eigenes Geld.

Bürgermeister Reischl sagt, auch in Hebertshausen gebe es Sorgen wegen der immer mehr werdenden Geflüchteten, wegen der vielen jungen Männer, die durch den Ort liefen. Auch hier gibt es Ängste. Aber trotz der vielen Geflüchteten sänken die Zahlen in der Kriminalitätsstatistik seit Jahren. Und das, betont der CSU-Politiker, bringe den Geflüchteten die nötige gesellschaftliche Akzeptanz, verbessere ihr Leben und entlaste die Sozialkassen.

Reischl fordert deshalb eine Arbeitspflicht für die Neuen im Ort - auch für die, die eigentlich eine schlechte Bleibeperspektive haben und abgeschoben werden sollen, wie Sane Sadibou. Sadibou ist bislang nur geduldet in Deutschland, ihm droht die Abschiebung. Weil er keinem ordentlichen Job nachkommen darf, verrichtet er auf einem Friedhof im nahegelegenen Dachau freiwillig gemeinnützige Arbeit. Hier befreit Sadibou Gräber von Laub und schneidet Hecken - für gerade einmal 80 Cent pro Stunde.

Auch bei Einsätzen der Freiwilligen Feuerwehr in Hebertshausen ist Sadibou dabei. Er suche immer danach, etwas tun zu können und wolle helfen, sagt Sadibou. Die Einwohner von Hebertshausen schätzen sein Engagement.

AfD deutlich unter Landesdurchschnitt

Bürgermeister Reischl bewundert den Einsatz der ehrenamtlichen Helfer in der Gemeinde, den Arbeitseinsatz der Geflüchteten, die Offenheit der Unternehmer. Aber er verzweifelt manchmal an den Asylgesetzen und seiner eigenen Partei. Statt Zuwanderung konstruktiv zu nutzen, werde in der CSU Stimmung gemacht. Ebenso wie bei der Union im Bund.

"Fakt ist: Friedrich Merz gelingt es genauso wenig wie Markus Söder, die Zahlen der AfD zu reduzieren, sondern ganz im Gegenteil: Die Zahlen werden immer mehr bundesweit, genauso wie in Bayern", sagt Reischl.

In Hebertshausen, wo die AfD bei den Landtagswahlen mit 10,4 Prozentpunkten deutlich unter dem Durchschnitt in Bayern blieb, würden Geflüchtete nicht als Bedrohung des inneren Friedens, sondern als Chance gesehen. Wahrscheinlich, bilanziert der Bürgermeister, zeichne das diese Gemeinde aus: der Pragmatismus, die Unaufgeregtheit. Hier lasse man sich nicht von Angstmacherei leiten. "Wir machen unsere eigenen Erfahrungen", so der CSU-Politiker.

Monitor berichtet über dieses Thema am 12.10.2023 um 21.45 Uhr in der ARD.

Silke Diettrich, WDR, tagesschau, 13.10.2023 05:30 Uhr

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete ARD Monitor am 12. Oktober 2023 um 21:45 Uhr.