Analyse

BVerfG zu Anleihenkauf Urteil mit fatalen Folgen?

Stand: 12.05.2020 14:52 Uhr

Selten hat ein Karlsruher Urteil zu solchen Reaktionen geführt. Nach der Entscheidung zum EZB-Anleihekaufprogramm prüft die EU-Kommission ein Vertragsverletzungsverfahren. Rechtsexperten befürchten gravierende Folgen.

Eine Analyse von Klaus Hempel, SWR

Der zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts war sich offensichtlich darüber im Klaren, dass sein Urteil für viel Kritik sorgen wird. Zu Beginn der Urteilsverkündung hatte Gerichtspräsident Andreas Voßkuhle noch bemerkt, es könne "auf den ersten Blick irritierend wirken". Tatsächlich löste die Entscheidung einen Sturm der Entrüstung aus. Aber der Reihe nach.

Vor einer Woche hatte das Bundesverfassungsgericht entschieden, dass die milliardenschweren Anleihekäufe der EZB teilweise verfassungswidrig seien. Zuvor hatte der Europäische Gerichtshof (EuGH) allerdings geurteilt, dass das Programm rechtlich in Ordnung sei. Dies akzeptierten die Karlsruher Richter aber nicht und stellten sich damit - zum ersten Mal überhaupt - gegen den EuGH. Dessen Urteil nannten sie "objektiv willkürlich" und "methodisch nicht mehr vertretbar". 

Ihr Hauptkritikpunkt am Anleihekaufprogramm: Die EZB habe nicht begründet, warum das Programm verhältnismäßig sei und die erheblichen wirtschaftlichen Auswirkungen auf alle Bürgerinnen und Bürger gerechtfertigt sein sollen. Die EZB habe nun drei Monate Zeit, diese Begründung nachzuliefern. Sollte sie das nicht tun, dürfe die Bundesbank bei dem Kaufprogramm nicht mehr mitmachen.

Die polnische Regierung jubelt

Die Entscheidung wurde auch in anderen EU-Staaten aufmerksam verfolgt und könnte schwere europapolitische Konsequenzen haben. In einer Mitteilung an die "Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung" bezeichnete der polnische Ministerpräsident Mateusz Morawiecki die Entscheidung als "eines der wichtigsten Urteile in der Geschichte der Europäischen Union". Und ergänzte: "Die Verträge werden von den Mitgliedstaaten geschaffen und sie bestimmen, wo für die Organe der EU die Kompetenzgrenzen liegen."

In Polen baut die nationalkonservative PiS-Regierung das Justizwesen seit Jahren um. Der EuGH schritt bereits mehrfach ein und befand, dass Teile der Reformen gegen EU-Recht verstießen.

Polens Premierminister Mateusz Marowiecki

Polens Premierminister Marowiecki (rechts) hält das Karlsruher Urteil für eines der wichtigsten in der EU-Geschichte.

"Atombombe gezündet"

"In Polen knallen die Sektkorken", so kommentierte Franz Mayer, Professor für Europarecht an der Universität Bielefeld, die Karlsruher Entscheidung - und sprach zugleich von einer "Atombombe", die die Richter gezündet hätten. Seine Befürchtung: Polen, Ungarn und andere EU-Staaten könnten den EuGH-Urteilen nun ebenfalls nicht mehr folgen und dabei auf Deutschland verweisen. Diese Einschätzung teilen auch andere Rechtsexperten. Der Staatsrechtler Alexander Thiele von der Universität Göttingen kritisierte, das Bundesverfassungsgericht habe ohne Not die "Büchse der Pandora geöffnet".

Auch beim Bundesgerichtshof (BGH) scheint man sich große Sorgen zu machen. In einem längeren Meinungsartikel bezeichnete Peter Meier-Beck, Vorsitzender Richter am BGH, die Entscheidung als "Angriff auf die Europäische Union als rechtlich verfasste Gemeinschaft europäischer Demokratien".

Diese Kritik ist besonders bemerkenswert, denn es kommt eigentlich nie vor, dass sich BGH-Richter nach Urteilen des Verfassungsgerichts öffentlich zu Wort melden.

"Zeichen nationaler Selbstbehauptung"

Es gibt aber auch renommierte Juristen, die die Entscheidung verteidigen. Der Göttinger Staatsrechtler Frank Schorkopf etwa hält das Urteil für "die konsequente Fortführung der Karlsruher Rechtsprechung" und für ein "Zeichen nationaler Selbstbehauptung". Andernfalls gäbe es "keine Möglichkeit für die Bundesrepublik, kompetenzüberschreitendes Handeln der EU-Organe effektiv einzufangen".

Tatsächlich hatte sich Karlsruhe in früheren Urteilen zum Thema Europa immer auch eine Art "Notbremse" offengelassen - das Recht zum "letzten Wort" für bestimmte Fälle. Dies hatten zuvor auch schon andere Verfassungsgerichte der EU-Staaten getan.

Vertragsverletzungsverfahren droht - oder doch nicht?

Welche Dimension das Urteil des Bundesverfassungsgerichts hat, zeigt die Reaktion der EU-Kommission. Deren Präsidentin Ursula von der Leyen machte deutlich, dass gegen Deutschland ein Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet werden könnte. "Das letzte Wort zum EU-Recht hat immer der Europäische Gerichtshof in Luxemburg", schrieb von der Leyen an den EU-Politiker Sven Giegold von den Grünen. Es gehe darum, die EU als Werte- und Rechtsgemeinschaft zusammenzuhalten.

Ob es tatsächlich zu einem Vertragsverletzungsverfahren kommt, ist derzeit offen. Das dürfte auch davon abhängen, wie die EZB nun reagiert - und ob sie bereit ist, die vom Bundesverfassungsgericht eingeforderte Verhältnismäßigkeitsprüfung in einen neuen Beschluss zu gießen. Bisher hat EZB-Präsidentin Christine Lagarde lediglich deutlich gemacht, dass die EZB nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts an ihrem Kurs festhalten werde.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete NDR Info am 12. Mai 2020 um 14:42 Uhr.