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FAQ

Urteile zu Corona-Regeln von 2020 Warum hat das Gericht erst jetzt entschieden?

Stand: 24.11.2022 13:14 Uhr

Dass man in Bayern zu Beginn der Corona-Pandemie nicht mal alleine auf einer Parkbank sitzen durfte, war unzulässig. Warum kommt dieses Urteil erst jetzt? Und muss der Staat jetzt Bußgelder zurückzahlen?

Von Christoph Kehlbach, ARD-Rechtsredaktion

Warum war die bayerische Verordnung rechtswidrig?

Ende März bis Mitte April 2020 lag das öffentliche Leben in Bayern brach. In dieser Zeit herrschten strenge Ausgangsbeschränkungen. Die eigene Wohnung durfte man damals nur verlassen, wenn man dafür einen "triftigen Grund" hatte - etwa Sport und Bewegung an der frischen Luft. Selbst dann aber durfte man nur alleine oder mit Angehörigen des eigenen Hausstandes raus. Das "Verweilen im Freien", etwa um im Park ein Buch zu lesen, war nicht gestattet. Das ging dem Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) zu weit. Die "triftigen Gründe" seien zu eng gefasst gewesen, die Regelung daher nicht mehr verhältnismäßig.

Dahinter steht der Gedanke: Der Staat darf zwar prinzipiell die Grundrechte der Bürger und Bürgerinnen einschränken, wenn das geboten ist. Aber jeder staatliche Eingriff muss im Verhältnis zu den damit verfolgten Zielen stehen. Es darf also keine ungenutzten Maßnahmen geben, die gleichermaßen wirksam sind, dabei aber weniger stark die Freiheiten der Bürgerinnen und Bürger beschränken. Im Sinne der Verhältnismäßigkeit hätten dann diese gewählt werden müssen. Genau daran fehlte es bei den bayerischen Ausgangsbeschränkungen.

Zumindest alleine oder ausschließlich mit Angehörigen des eigenen Hausstandes hätte es auch in Bayern möglich sein müssen, sich draußen aufzuhalten. Mit Kontaktbeschränkungen im öffentlichen Raum hätte man genauso gut, aber eben weniger einschneidend die Verbreitung des Virus bekämpfen können, entschieden die Richterinnen und Richter in Leipzig. So hätte es nach dem BVerwG zum Beispiel erlaubt sein müssen, auf einer Parkbank ein Buch zu lesen. Es sei nicht deutlich geworden, warum Tätigkeiten mit so unbedeutender Ansteckungsgefahr verboten gewesen seien.

Warum war die sächsische Verordnung rechtmäßig?

Die damalige Corona-Verordnung in Sachsen genüge hingegen den rechtlichen Anforderungen, entschied heute das BVerwG. Mit der Entscheidung über diese Verordnung hat sich das Gericht auch in einer wichtigen juristischen Streitfrage positioniert: Hatte der Staat in der Anfangsphase der Pandemie überhaupt eine ausreichende gesetzliche Grundlage für die Schutzverordnungen? Diese Frage hat das BVerwG jetzt mit Ja beantwortet.

Hintergrund dieser Frage ist, dass grundsätzlich jedes staatliche Handeln, das die Bürger einschränkt, in einem Gesetz geregelt sein muss. Dabei gilt: Je stärker die Belastung für die Bürger, desto genauer muss das Gesetz die Voraussetzungen für das staatliche Handeln regeln. Die Corona-Schutzverordnungen schränkten die Bevölkerung mit Betriebsschließungen und Ausgangssperren sehr stark ein. Im Infektionsschutzgesetz des Bundes gab es aber zu Beginn der Pandemie nur eine ganz allgemeine Regelung. Diese Regelung erfasste alle ansteckenden Krankheiten - wie zum Beispiel auch Masern - und ermächtigte die Behörden allgemein zu den "notwendigen Schutzmaßnahmen".

Eine Corona-spezifische Regelung erließ der Gesetzgeber erst im November 2020. Zumindest in der Frühphase im April 2020 erfüllte die gesetzliche Regelung nach dem BVerwG jedoch alle Anforderungen. Hierbei sei mit zu berücksichtigen, dass der Gesetzgeber nicht vorhersehen kann, welche übertragbaren Krankheiten neu auftreten und welche Schutzmaßnahmen zu ihrer Bekämpfung erforderlich sein werden.

Auch im Übrigen sei die sächsische Verordnung rechtmäßig. Sie enthielt keine strenge Ausgangssperre wie in Bayern, sondern verfügte etwa die Schließung aller Gaststätten und Sportplätze. Diese Schließungen hielt das BVerwG für rechtmäßig. Sie seien gemessen an dem Ziel, die Ausbreitung des Virus zu verlangsamen verhältnismäßig gewesen.

Warum hat das BVerwG erst jetzt entschieden?

Die Gerichte haben auch schon während der vergangenen Jahre viele Entscheidungen zur Corona-Pandemie getroffen. Speziell die oberen Verwaltungsgerichte in den einzelnen Bundesländern waren dabei nahezu im Dauereinsatz. Weil es für die Klägerinnen und Klägern aber oft schnell gehen musste, haben sie zunächst meistens Eilanträge gestellt. In solchen Verfahren entscheidet die Justiz sehr zügig aber eben nur vorläufig. Ein aufwändiges Beweisverfahren wird dabei nicht durchgeführt, es bleibt meist bei einer Folgenabwägung. Erst danach kam es zu den Hauptsacheverfahren. Diese dauern häufig mehrere Monate oder sogar Jahre.

Die obersten Verwaltungsgerichte aus Bayern und Sachsen haben im Herbst 2021 in der Hauptsache über die Rechtmäßigkeit der ersten Schutzverordnungen ihrer Bundesländer entschieden. Dass erst jetzt ein solches Hauptsacheverfahren in der Revisionsinstanz das oberste Verwaltungsgericht der Bundesrepublik erreicht, ist also nicht verwunderlich. Dass der Weg nach Leipzig überhaupt eröffnet war, lag an der Materie selbst: Wegen der besonderen Bedeutung der Rechtsfragen war die Revision zum Bundesverwaltungsgericht ausdrücklich zugelassen worden. Das jetzige Urteil aus Leipzig markiert also den Schlusspunkt des Instanzenzuges, die Fälle sind nunmehr rechtskräftig entschieden.

Warum noch eine Entscheidung über veraltete Verordnungen?

Beide Schutzverordnungen sind ohnehin schon lange nicht mehr in Kraft, sondern wurden durch viele weitere Verordnungen ersetzt. Über vergangene Rechtsnormen entscheiden Gerichte nur im Ausnahmefall. Ein solcher Ausnahmefall liegt hier aber nach den obersten Verwaltungsgerichten der Länder vor. Denn die Corona-Schutzverordnungen waren mit schwerwiegenden Eingriffen in die Freiheitsrechte der Betroffenen verbunden. Viele der Rechtsfragen, die aus der Corona-Pandemie resultierten, waren zudem juristisches Neuland. Die Fragen, um die es in diesen Verfahren ging waren zudem hoch umstritten - juristisch, politisch und auch gesellschaftlich.

Welche Auswirkungen haben die Entscheidungen?

Die sächsische Verordnung ist rechtmäßig. Damit stellen sich hier auch keine Folgefragen hinsichtlich Entschädigungszahlungen oder der Rückforderungen von Bußgeldern. Theoretisch könnte der unterlegene Kläger noch das Bundesverfassungsgericht anrufen. Dort müsste er geltend machen, dass ihn das Urteil in seinen Grundrechten verletzt.

Für die bayerische Verordnung hat das BVerwG festgestellt, dass sie so nicht hätte erlassen werden dürfen. Da die Verordnung ohnehin nicht mehr in Kraft ist, kann sie nicht aufgehoben werden. Die Entscheidung des BVerwG wirft aber die Frage danach auf, ob der Staat Bußgelder zurückzahlen muss. Für diese Frage sind die Zivilgerichte zuständig.

Grundsätzlich gilt, dass abgeschlossene Entscheidungen von Einzelfällen nicht wieder aufgerollt werden können. Ob für Bußgelder etwas anderes gelten muss, weil sie einer Strafe sehr ähnlich sind, ist unter Rechtswissenschaftlern aber umstritten. Bei Strafen, die auf der Grundlage von rechtswidrigen Gesetzen verhängt wurden, ist eine Wiederaufnahme des Verfahrens möglich. Ob dieser Grundsatz auch auf Bußgelder auf der Grundlage einer rechtswidrigen Verordnung übertragen werden kann, wird rechtlich noch geklärt werden müssen.

Arnd Groß, MDR, 23.11.2022 05:31 Uhr

Anmerkung: In einer früheren Version dieses Textes hieß es, dass die Hauptsacheverfahren auch wegen einer Beweisaufnahme mehrere Monate oder sogar Jahre gedauert hätten. Tatsächlich hat in der Vorinstanz keine Beweisaufnahme stattgefunden.