Analyse

AKW-Laufzeitverlängerung Die Grünen stehen unter Druck

Stand: 25.09.2022 16:45 Uhr

Die Grünen müssen sich entscheiden zwischen Energiesicherheit und dem für sie so wichtigen Atomausstieg. Für die Partei und ihren Wirtschaftsminister Habeck ist es ein riskantes Spiel.

Eine Analyse von Oliver Sallet, ARD Berlin

Es ist Wahlkampf in Niedersachsen - und Jürgen Trittin wettert mal wieder über sein Lieblingsthema. "Klima und soziale Gerechtigkeit", so das Thema seines Auftritts am Samstag in der Osnabrücker "Lagerhalle". Aber eine Sorge treibt die Menschen hier im Norden, wo schon seit Jahrzehnten gegen Atomkraft gekämpft wird, besonders um: Wird das einzige Atomkraftwerk in Niedersachsen Ende des Jahres wirklich vom Netz gehen, wie es seit langem geplant ist?

Man müsse nur nach Frankreich schauen, sagt Trittin, wo viele Meiler im Sommer wegen mangelndem Kühlwasser in den Flüssen vom Netz genommen werden mussten. Für Versorgungssicherheit sei Atomkraft daher nicht geeignet: Es sei "ein Desaster".

Koalitionspartner fordert AKW-Weiterbetrieb

Aber klar ist: Die Grünen stehen unter Druck, und die Forderungen, die Meiler zumindest mit einem Streckbetrieb länger laufen zu lassen, hören nicht auf. Zu groß ist die Angst vor einem Blackout im Winter infolge mangelnder Gaslieferungen und der immer wieder notwendigen Gasverstromung.

In der Ampelkoalition fordert die FDP lauthals den Weiterbetrieb der Kernkraftwerke in Deutschland, und sie erhält Unterstützung aus der Opposition. In Bayern ist die CSU wegen ihrer Energiepolitik stark unter Druck geraten. Die Landesregierung im Süden hätte nicht genug für den eigenen Netzausbau getan, so der Vorwurf. Kein Wunder also, dass Bayern am AKW Isar 2 festhalte, sagen die Grünen.

Ein griffiges Oppositionsthema sollte Abhilfe schaffen, als sich im August die Parteichefs der Union - Merz und Söder - für einen denkwürdigen Werbeauftritt vor dem Meiler Isar 2 bei Landshut einfanden. Merz machte klar, dass es weder technische, personelle, noch rechtliche Hindernisse für eine Laufzeitverlängerung gebe. Das Einzige, was entschieden werden müsse sei: "Ist es auch politisch möglich?"

Riskantes Spiel für Habeck und die Grünen

Für die Grünen ist es ein Dilemma: Auf der einen Seite der viel beschriebene Gründungsmythos, die Anti-Atomkraft-Bewegung der 80er-Jahre, der bis heute tief in der Parteibasis verwurzelt ist. Auf der anderen Seite die Regierungsverantwortung und der Zwang, Realpolitik zu betreiben - inmitten der größten Energiekrise seit Jahrzehnten. Wirtschaftsminister Robert Habeck, der nach der Katastrophe von Fukushima gegen Atomkraft demonstrierte, wird von der eigenen Partei vor sich her getrieben.

Es ist ein riskantes Spiel für Habeck und die Grünen, die jetzt entscheiden müssen, ob sie Energiesicherheit oder ihre politischen Überzeugungen in den Vordergrund stellen. Deutlich wurde das zuletzt bei der Bekanntgabe der Ergebnisse eines neuen Stresstests in Berlin.

Obwohl der einen Weiterbetrieb der Atomkraftwerke in Deutschland empfiehlt, versucht Habeck sich mit einem Spagat aus Befriedigung der eigenen Partei und Energiesicherheit für den Winter politisch herauszuwinden. Statt Streckbetrieb schlägt er eine noch nie dagewesene Einsatzreserve vor, mit der die Atomkraftwerke zwar vom Netz genommen werden, aber im Extremfall wieder angefahren werden sollen.

AKW-Betreiber: Reservebetrieb "technisch nicht machbar"

Der Betreiber des Atomkraftwerkes Isar 2 machte Habeck jedoch einen Strich durch die Rechnung. In einem Brief an das Bundeswirtschaftsministerium, der dem ARD-Hauptstadtstudio vorliegt, erklärte das Unternehmen PreussenElektra im August, der Meiler stehe für eine Laufzeitverlängerung über den 31. Dezember hinaus bereit.

Nach der Ankündigung der Einsatzreserve durch Habeck jedoch folgte im September ein zweiter Brief, der in deutlichen Worten warnte: Ein Reservebetrieb sei "technisch nicht machbar und daher ungeeignet". Mehr noch: Ein Wiederanfahren "wird in dieser Form nicht praktiziert und wir haben keinerlei Erfahrungswerte damit".  

Eine spätere Nachricht über ein defektes Ventil sorgte erneut für Verwirrung. Es ermögliche zwar den sicheren Betrieb des Meilers bis zum Jahresende, jedoch nicht den Reservebetrieb über das Jahr 2022 hinaus. Andernfalls müsse das Ventil umgehend repariert werden. Die Nachricht und die Briefe an das Ministerium sind inzwischen Teil eines Mysteriums rund um Isar 2 und den Betreiber PreussenElektra.

Experte rechnet mit hohen Kosten für Einsatzreserve

Aber die kritische Haltung über den Reservebetrieb findet auch in Expertenkreisen Zuspruch. Der emeritierte Professor für Kernenergiesysteme an der ETH Zürich, Horst-Michael Prasser, bestätigt, dass Habecks Pläne kaum erprobt seien. Er wundere sich, dass die Bundesregierung mit ihrer Entscheidung so viel Zeit habe verstreichen lassen.

Hätte man vor einem Jahr Brennstoff bestellt, sagt Prasser, könnten die Kernkraftwerke den gesamten Winter über zu 100 Prozent Energie liefern. Mit der nun geplanten Einsatzreserve, rechnet Prasser vor, fielen pro Meiler und Tag zudem Kosten von einer Million Euro an - ohne dass dabei auch nur eine einzige Kilowattstunde Strom produziert würde.

Atomkraft - Nein danke!... oder doch: Ja bitte?

Oliver Sallet, ARD Berlin, Bericht aus Berlin

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete der Bericht aus Berlin am 25. September 2022 um 18:00 Uhr.