Spitze, Fieberthermometer und Akte

Spahn-Aussage Immer mehr Kinder an Masern erkrankt?

Stand: 02.04.2019 15:58 Uhr

Es sei ein Skandal, dass immer mehr Kinder in Deutschland an Masern erkranken, sagt Gesundheitsminister Spahn. Doch stimmt diese Aussage wirklich?

Von Patrick Gensing, ARD-faktenfinder

In der Debatte über eine Impfpflicht hat Bundesgesundheitsminister Jens Spahn vor den Gefahren durch Masern gewarnt. Es sei "ein Skandal, dass immer mehr Kinder in Deutschland erkranken", sagte der CDU-Politiker. Zu viele Eltern und auch Ärzte würden diese Debatte auf die leichte Schulter nehmen. Man müsse die Impfquoten in Gemeinschaftseinrichtungen für Kinder erhöhen, auf weit mehr als 90 oder 95 Prozent.

Tatsächlich hat sich die Zahl der gemeldeten Masern-Erkrankungen 2019 im Vergleich zum Vorjahreszeitraum erhöht. Das Robert Koch-Institut (RKI) erfasste in den ersten zehn Wochen des Jahres bundesweit 203 Fälle, im vergangenen Jahr waren es in diesem Zeitraum 76.

Schaut man sich allerdings die Zahlen davor an, wird deutlich, dass die Zahl der registrierten Fälle stark schwankt. So listet das RKI für 2017 fast 300 Fälle auf, 2016 waren es nur 18 - und 2015 fast 1000.

Zahl der Masern-Fälle in den ersten zehn Kalenderwochen
Jahr Registrierte Fälle
2019 203
2018 76
2017 295
2016 18
2015 989
2014 57
2010 104
2005 193
2001 896

Auf Kinder bezogen sehen die Zahlen ähnlich aus. Die jüngsten Daten des RKI zeigen, dass in den ersten zehn Wochen des Jahres 89 Kinder im Alter unter 14 Jahren erkrankt sind. 2017 waren es in diesem Zeitraum allerdings 169, im Jahr 2015 sogar 513 - und beispielsweise 2011 ebenfalls 89.

Zahl der Masern bei Kindern in den ersten zehn Kalenderwochen
Jahr Zahl der Fälle
2019 89
2018 31
2017 169
2016 9
2015 513
2011 89
2006 155
2001 546

Dass "immer mehr" Kinder an Masern erkranken, lässt sich aus diesen Zahlen nicht ableiten. Eine RKI-Sprecherin erklärte auf Anfrage des ARD-faktenfinder, es gebe lokal immer wieder Ausbrüche von Masern. Der größte Masernausbruch im Jahr 2017 umfasste beispielsweise gleich 465 Fälle und begann im Februar 2017 in Duisburg und weitete sich auf weitere Städte und Landkreise aus.

Doppelte Impfung

Experten gehen davon aus, dass eine Elimination der Krankheit vorliegt, wenn in Deutschland eine endemische Übertragung der Masern über mindestens zwölf Monate nicht mehr zu beobachten ist. Dafür muss bei mindestens 95 Prozent der Bevölkerung eine ausreichende Immunität vorliegen. Die ständige Impfkommission empfiehlt deswegen zwei Impfungen bis zum Ende des zweiten Lebensjahres, damit die Kinder bereits in der Kita geschützt sind.

Es handelt sich bei der zweiten Impfung um keine Auffrischung, sondern um eine Wiederholung. Denn durch die erste Impfung wird bei 90 bis 95 Prozent der Kinder ein Schutz erreicht; die restlichen fünf bis zehn Prozent sollen durch die zweite Impfung geschützt werden.

Regionale Unterschiede

Tatsächlich werde aber oft zu spät geimpft, kritisieren Experten. Das zeigen auch Statistiken: Bei den Zweijährigen liegt die Impfquote bundesweit bei knapp 74 Prozent. Dabei fallen erhebliche regionale Unterschiede auf: In Hamburg und Schleswig-Holstein sind in diesem Alter bereits mehr als 80 Prozent der Kinder zweifach gegen Masern geimpft, in Thüringen hingegen nur gut 70 Prozent und in Baden-Württemberg sogar weniger als 69 Prozent.

Impfquote gegen Masern bei Zweijährigen des Jahrgangs 2014
Bundesland Quote in Prozent
Hamburg 80,5
Schleswig-Holstein 80,3
Berlin 79,6
...
Thüringen 70,6
Baden-Württemberg 68,9
Sachsen 24,9

Eine Ausnahme stellt Sachsen dar: Das Land hat als einziges in Deutschland eine eigene Impfkommission, die eine zweite Impfung erst ab dem 46. Lebensmonat, also im Alter von fast vier Jahren, empfiehlt. Dementsprechend ist die Quote bei Zweijährigen in Sachsen extrem niedrig.

Bis zum Schuleingang waren im Jahr 2016 in Deutschland mehr als 97 Prozent der Kinder einmalig gegen Masern geimpft. Die Quote für die zweite Impfung lag bei 92,9 Prozent; sie nimmt seit 2011 nur noch sehr langsam zu. Die Gründe, weshalb weniger Kinder ein zweites Mal geimpft werden, sind vielfältig, betonen Experten. Generelle Skepsis gegen Impfen spielt laut einer Studie der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung keine entscheidende Rolle. Zumeist werden Impftermine verpasst oder aus Angst vor Nebenwirkungen verworfen.

Impflücke bei Erwachsenen

Weit gravierender als bei Kindern sei aber die Impflücke bei Erwachsenen, betonen Experten. Viele hätten die Masern als Kind zwar selbst durchmachen müssen und seien nun immun, bei vielen sei der Status aber schlicht unklar. Eine Studie kam zu dem Ergebnis, dass rund 15 Prozent der Probanden, die zwischen 1970 und 1993 geboren wurden, gar keinen Schutz gegen Masern hätten.

Dementsprechend meinen viele Experten, die derzeitige Diskussion um eine Impflicht für Kinder gehe am Kern des Problems vorbei. Der Präsident des Robert Koch-Instituts schrieb in der "Ärztezeitung", eine solche Maßnahme sei möglicherweise sogar kontraproduktiv, da eine gesetzliche Pflicht die Bereitschaft zur Impfung einschränken könnte. Zwar müsse auch bei Kindern die Impfquote weiter erhöht werden, wichtiger sei aber, die Impflücke bei Erwachsene zu schließen. Zudem müssten Hindernisse bei Abrechnungen bei Arztbesuchen abgebaut werden, damit beispielsweise Kinderärzte auch die Eltern gegen Masern impfen könnten. Es gebe noch viele Möglichkeiten, bevor man eine Pflicht einführen sollte.

Mehrheit der Bevölkerung für Pflicht

Unterstützung für eine Impfpflicht kam hingegen von vielen Politikern sowie Ärztepräsident Frank Ulrich Montgomery. Eine solche Maßnahme wäre aus medizinisch-wissenschaftlicher Sicht absolut sinnvoll, sagte er dem NDR. Ebenso kommt eine "Emnid"-Umfrage zu dem Ergebnis, dass 77 Prozent der Befragten eine Pflicht unterstützen.

Dass aber "immer mehr" Kinder erkranken würden, wie Gesundheitsminister Spahn behauptet, ist nicht belegt. Vielmehr geht es vielen Befürwortern der Impfpflicht darum, die Quote endlich auf mehr als 95 Prozent zu heben und so die Krankheit endgültig zu besiegen.