Menschen mit Mund-Nasen-Schutz in der Innenstadt Wuppertals
faktenfinder

Infektionsprognosen Modelle mit Unsicherheiten

Stand: 21.04.2021 17:06 Uhr

Immer wieder veröffentlichen verschiedene Forscherinnen und Forscher Prognose-Modelle zur Entwicklung der Infektionszahlen. Doch die Vorhersagen sind nur Annäherungen.

Am 12. März veröffentlichte das Robert-Koch-Institut (RKI) in seinem Lagebericht eine aufsehenerregende Prognose, die bei fortlaufender Entwicklung eine bundesweite 7-Tage-Inzidenz von über 300 in der Kalenderwoche 15 vorhersagte. Dort hieß es außerdem: "Die Extrapolation der Trends zeigt, dass mit Fallzahlen über dem Niveau von Weihnachten ab KW 14 zu rechnen ist." Das heißt, bereits in der Woche nach Ostern hätten Inzidenzen von 250 und mehr erreicht sein können. Auch die tagesschau berichtete ausführlich über die Prognose des RKI.

Der Virologe Christian Drosten erklärte die Projektion im NDR-Podcast zur "amtlichen Auffassung von dem, was uns in den nächsten Wochen bevorsteht". Doch die vom RKI real gemeldeten Fallzahlen liegen bis heute deutlich unter dieser Prognose: Mit derzeit leicht über 160 Fällen auf 100.000 Einwohner in sieben Tagen liegt die Inzidenz nicht einmal halb so hoch, wie vom RKI Mitte März für die aktuelle Kalenderwoche vorhergesagt. Und das, obwohl entscheidende Verschärfungen der bundesweit getroffenen Maßnahmen seitdem nicht nur weitgehend ausblieben, sondern es an manchen Orten sogar zu weiteren Lockerungen und Modellversuchen kam.

Deulich niedriger

Der Wissenschaftsjournalist Hinnerk Feldwisch-Drentrup machte auf Twitter darauf aufmerksam, dass die gemessenen Fallzahlen noch nicht einmal mehr innerhalb des sogenannten 95%-Konfidenzintervalls der Prognose liegen, das angibt, mit welcher Sicherheit die Ergebnisse einer wissenschaftlichen Studie zutreffen.

Demnach hätte die gemessene Inzidenz in 95 Prozent der errechneten Fälle zwischen ca. 220 und ca. 520 liegen müssen, tatsächlich stieg sie bislang nicht über 172. Gerechnet hatten die RKI-Modellierer mit einer Verdopplungszeit der Fallzahlen der Virusvariante B.1.1.7 innerhalb von zwölf Tagen. Daraus ergab sich der prognostizierte Anstieg der insgesamten Fallzahlen.

RKI-Rechnung beruhte auf Beobachtung der britischen Mutante

Der RKI-Statistiker Matthias an der Heiden, der an der Modellierung beteiligt war, erklärte dazu auf Anfrage des ARD-faktenfinder, man habe bei der Prognose einen Trend in die Zukunft fortgeschrieben, "den wir zuvor über acht Wochen stabil beobachtet haben - und der sich zunächst auch fortsetzte wie vorhergesagt. Dass er seit Ostern nun so nicht mehr anhält, ist ein wichtiges Signal, dessen Gründe wir noch nicht genau kennen. Es könnte mit der eingeschränkten Mobilität der Menschen sowie mit geschlossenen Betrieben und Schulen über Ostern oder mit einer Verhaltensanpassung der Bevölkerung zu tun haben. Auch wurden im Vergleich zu den Vorwochen eine geringere Anzahl von Tests durchgeführt. Ob sich die aktuelle Seitwärtsbewegung fortsetzt, bleibt abzuwarten."

Dem RKI sei es Mitte März darum gegangen, eindringlich davor zu warnen, dass sich hinter den Gesamtzahlen ein stetiges exponentielles Wachstum der ansteckenderen britischen Variante B.1.1.7 verberge.

Auch andere Modelle zu pessimistisch

Auch andere Modellierungen weisen zu hohe Prognosewerte auf: So veröffentlichte der "Tagesspiegel" Ende Februar einen sehr ausführlichen Artikel, der auf der Modellierung des Physikers Cornelius Roemer beruhte, der seine #Coronavorhersage auch regelmäßig auf Twitter postete, letztmalig allerdings am 28. März. Demnach müsste die 7-Tage-Inzidenz aktuell bei 250 liegen, bei Roemer liegt der tatsächliche Wert gerade noch am unteren Ende des Konfidenzintervalls.

Inzidenz von über 2000 im Mai?

Der Berliner Mobilitätsforschers Kai Nagel sagte Mitte März für Anfang Mai sogar Inzidenzen von über 1000 vorher, im ungünstigsten Fall sogar über 2000. Auch diese Einschätzung wurde in Politik und Medien breit zitiert, unter anderem von SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach.

Natürlich weisen all diese Modellierungen ihre Berechnungen eben auch als solche aus, als mögliche Szenarien, die nicht eintreffen müssen. Dennoch müsste laut der Modellierung von Nagel der Inzidenzwert selbst im günstigsten angenommenen Fall des Modells mittlerweile bei über 500 liegen, der reale Wert beträgt etwa ein Drittel davon. Bemerkenswert ist dies insofern, als dass Nagels Modellierungen auch einer der Grundlagen sind, auf die sich die Verhängung von Ausgangssperren im Infektionsschutzgesetz stützt.

Durchschnitt der Projektionen liegt niedriger

Neben diesen medial breit rezipierten Vorhersagen eine Vielzahl weiterer Modelle gibt, die weltweit an Universitäten und Forschungseinrichtungen erstellt werden. Der "European Covid-19 Forecast Hub" sammelt diese Prognosen und präsentiert sie auf einer Webseite. Betrieben wird diese von der Londoner Hygiene- und Tropenmedizinhochschule (LSHTM) und dem Europäischen Zentrum für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten (ECDC), einer EU-Behörde.

Neben der Möglichkeit, jede einzelne Vorhersage auszuwählen, bietet die Seite auch einen Durchschnittswert aller Vorhersagen. Demnach ist bis Anfang Mai eher eine Seitwärtsbewegung und allenfalls ein moderater Anstieg zu erwarten, der Durchschnittswert verharrt bei ca. 155.000 Neuinfektionen pro Woche, was einer 7-Tage-Inzidenz von ca. 185 entspräche.

Die Gruppe um die Physikerin Viola Priesemann am Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation geht von einem ähnlichen Wert aus, die Modellierung des Helmholtz-Zentrums für Infektionsforschung ist pessimistischer und sagt eine Inzidenz von knapp unter 200.000 Neuinfektionen voraus, womit die Inzidenz bei ca. 240 - und damit etwas über dem bisherigen Höhepunkt im Dezember 2020 läge. Natürlich haben auch diese Modelle Konfidenzintervalle, deren Spannweite zum Teil weit über diese Werte hinaus reicht, dies gilt allerdings für Abweichungen in beide Richtungen.

Zu optimistische Schätzungen

Jenseits dieser verschiedenen Modelle gibt es auch optimistische Prognosen und Vorhersagen, die zwar von Wissenschaftlern geäußert werden, aber mehr nach Bauchgefühl klingen: So erklärte der Virologe Hendrick Streeck im Januar: "Im März, spätestens April gehen die Infektionszahlen nach unten - wie bei allen anderen Coronaviren auch." Er gehe davon aus, dass es "über die Sommermonate nur noch wenige Fälle" geben werde.

Zumindest für März und weite Teile des Aprils hat sich diese Prognose nicht bestätigt. Insgesamt bleibt die Vorhersage der kommenden Infektionszahlen ein unsicheres Geschäft.