Teilnehmer einer Demo vor der Volksbühne in Berlin, umgeben von Polizisten

"Hygienedemos" Jahrmarkt der kruden Ideen

Stand: 01.05.2020 08:46 Uhr

Jede Woche ziehen "Hygienedemos" in Berlin und anderen Orten mehr Menschen an. Anfangs war es ein Protest linker Aktivisten, inzwischen nehmen Menschen mit sehr unterschiedlicher Motivation teil.

Jeden Samstag kommen mehr Menschen zum Rosa-Luxemburg-Platz an der Volksbühne in Berlin, nachdem erstmals am 28. März Aktivisten "Nicht ohne uns" zum Protest gegen die Corona-Beschränkungen aufgerufen hatte. Von Woche zu Woche wird die Szene bunter, die Losungen schriller. Skandiert wird "Wir sind das Volk". Viele bringen ein Grundgesetz mit und verweisen auf die Grundrechte.

Andere trugen zuletzt Schilder mit Aussagen wie "5G kills" oder "Impfterrorismus" und Sprüchen über Microsoftgründer Bill Gates. Eine Frau zeigte mit einem T-Shirt mit der Aufschrift "Trump 2020" ihre Sympathie für den US-Präsidenten. Ein Mann gab sich mit dem Zeichen "Q" als Anhänger der Verschwörungsideologie QAnon zu erkennen. Auch Christen in Jutesäcken waren da und einige kamen, um auf der Straße zu meditieren. Wenige achteten auf die Abstandsregeln.

Ein Mann hält bei einer Demo am 25. April ein Schild mit der Aufschrift: "5G kills"

Immer aufs Neue versuchte die Polizei, die Demonstrationsbeschränkungen durchzusetzen. Sie forderte die Protestierenden erst auf, den Rosa-Luxemburg-Platz und die Seitenstraßen zu verlassen, um dann Demonstranten abzuführen und die Personalien aufzunehmen, um schließlich den Platz und die Straßen zu räumen. Dies könnte sich auch am 1. Mai und am folgenden Samstag wieder so ereignen.

"Kritische Intelligenz" gegen die "herrschenden Eliten"

Am Anfang stand "Nicht ohne uns". Deren Hauptinitiator ist der Journalist und Dramaturg Anselm Lenz, der unter anderem am Schauspielhaus Hamburg gearbeitet und für die "Taz" geschrieben hat. 2014 war er Mitbegründer des "Hauses Bartleby", das sich "Zentrum für Karriereverweigerung" nannte und dessen Mitglieder sich gegen die Auswüchse des Kapitalismus engagierten.

Den Aufruf zu den "Hygienedemos" begründete Lenz in einer Art Manifest. Darin schreibt er von einem "Notstandsregime" in der Corona-Krise. Er sieht eine Zeitenwende und das Ende des Finanzmarktkapitalismus heraufziehen, der die "herrschenden Eliten" mit Panik begegneten. Das Virus überlagere diese Situation nur. Nun sei die "kritische Intelligenzija" aufgerufen, "liberale Freiheitsrechte, Wissenschaftlichkeit, Unschuldsvermutung, vollständige Veröffentlichungsfreiheit und soziale Errungenschaften gegen Schlechteres zu verteidigen".

Eine Frau meditiert in einer Straße nahe dem Rosa-Luxemburg-Platz in Berlin

Auf der Website "Nicht ohne uns" präsentiert sich eine von Lenz und Mitstreitern geführte "Kommunikationsstelle demokratischer Widerstand". Die wöchentlichen Aktionen werden inzwischen als Verteilung einer Zeitung "Demokratischer Widerstand" angekündigt - unter Einhaltung der Hygieneregeln.

In der Zeitung sind schrille Worte zu lesen. Da ist von einem "Horror-Regime" die Rede, das die Bürger in "Todesangst" halte. Zitiert werden Experten, die allesamt die Corona-Maßnahmen für übertrieben halten. Als Mitherausgeber angegeben ist der italienische Philosoph Giorgio Agamben, der kürzlich in der "Neuen Zürcher Zeitung" vor einer Gesellschaft im ewigen Ausnahmezuststand warnte.

Hauptsache dagegen

Ob sich alle Teilnehmer der Protestaktionen zur "kritischen Intelligenz" zählen - ein Demonstrant hatte auf sein T-Shirt "Keine Gewallt" mit zwei l geschrieben - sei dahingestellt.

Was Teilnehmer an kruden und verworrenen Gedanken äußerten, trug der Verein "Zentrum Demokratischer Widerspruch" in einem Video zusammen. Deutschland, Europa und die Welt sollten versklavt werden, sagte da ein Mann. Von "Neuer Weltordnung" war die Rede und in Reichsbürgermanier von der Bundesrepublik als besetztem Land.

Die Gelegenheit, generelles Dagegensein gegen den Staat zu demonstrieren, nutzten prominentere und weniger prominente Vertreter, die sich einem alternativem Spektrum bis weit nach rechts zuordnen.

Es traten auf KenFM-Moderator Ken Jebsen, der ehemalige Journalist und Erdogan-Anhänger Martin Lejeune sowie der Journalist Billy Six, der unter anderem für die rechte Zeitung "Junge Freiheit" schreibt. Er hatte kürzlich ein Video im Berliner Virchow-Klinikum gedreht, mit dem er beweisen wollte, dass es sich bei der Corona-Pandemie um reine Panikmache handele. Allerdings war er in der falschen Abteilung unterwegs, wie das Klinikum dem ZDF mitteilte.

Auch für das Magazin "Compact" wurde geworben, das der Verfassungsschutz kürzlich zum Beobachtungsfall erklärte, weil es sich "revisionistischer, verschwörungstheoretischer und fremdenfeindlicher Motive" bediene. Der wegen Volksverhetzung verurteilte und fristlos aus dem Schuldienst entlassene "Volkslehrer" Nikolei Nerling kam ebenfalls zum Rosa-Luxemburg-Platz. Am 25. April erschienen zudem AfD-Politiker wie der Marzahner Abgeordnete Gunnar Lindemann sowie die NPD-Politiker Udo Voigt und Andreas Käfer.

"Wir sind nicht Eure Kulisse"

In der ersten Ausgabe der Protest-Zeitung "Demokratischer Widerstand" war als Sitz der Redaktion noch die Volksbühne angegeben. Auf Anfrage des "Tagesspiegel" erklärte eine Sprecherin jedoch, dass die Kultureinrichtung in keinerlei Verbindung zu der Zeitung stehe. Zum 25. April distanzierten sich die Volksbühne und Anwohner des Rosa-Luxemburg-Platzes von der Protestaktion, indem sie plakatierten: "Wir sind nicht Eure Kulisse", "ohne uns" und "unteilbar" für das gleichnamige Bündnis für eine offene und freie Gesellschaft. Den Namen Volksbühne und die Skulptur vor dem Haus bedeckten Mitarbeiter mit schwarzem Stoff. Ein Bündnis aus linksalternativen Gruppen formierte sich zum Protest gegen die Aktion "Nicht ohne uns".

Polizisten vor der Volksbühne in Berlin

Die Volksbühne distanzierte sich von der Aktion und deckte ihren Schriftzug mit schwarzem Stoff ab.

Lenz und sein Mitstreiter Hendrik Sodenkamp wiederum zeigten in einem Video vom 25. April keine Distanz zu dem Geschehen auf dem Rosa-Luxemburg-Platz. Sodenkamp bedankte sich vielmehr bei den Teilnehmern für das "tolle Ereignis". In der kommenden Woche würden sie es sich nicht nehmen lassen, auf den Rosa-Luxemburg-Platz zu kommen.

Simon Brost von der "Mobilen Beratung gegen Rechtsextremismus Berlin" kritisierte in einem Video des Online-Magazins "Supernova", dass sich die Organisatoren selber in das Feld der Verschwörungserzählung begeben hätten und zumindest den Raum weit offen gelassen hätten für Rechte und Rechtsextreme, die diesen zunehmend füllen würden. Er verglich diese Entwicklung mit den Montagsmahnwachen, die im Jahr 2014 begonnen hatten. Es sei notwendig, Menschen, die sich berechtigte Fragen stellten und Kritik äußern wollten, Räume bereitzustellen, dies aber in Abgrenzung zu Antisemitismus und Verschwörungserzählungen.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Inforadio am 26. April 2020 um 14:00 Uhr.