
Medien in der Türkei Berichterstattung unerwünscht
Stand: 20.01.2021 10:17 Uhr
In der Türkei greift eine besondere Form der Kontrolle um sich: die Nachrichtensperre. Seit dem gescheiterten Putsch verhängen Gerichte immer öfter ein solches Verbot.
Von Oliver Mayer-Rüth, ARD-Studio Istanbul
Bei der Einschränkung von Meinungs- und Pressefreiheit zeigt sich der türkische Staat immer wieder aufs Neue kreativ. Inflationär nutzt die Obrigkeit in den letzten Jahren die Methode der Nachrichtensperre. Solch eine Sperre wurde beispielsweise im Januar 2016 verhängt, als ein Terrorist auf dem Sultanahmet-Platz in Istanbul eine deutsche Reisegruppe in den Tod bombte. Ausländische Sender wie die ARD durften weiter berichten, türkische Sender mussten ihre Berichterstattung einstellen.
Im Januar 2020 berichtete die türkische Zeitung "Cumhuriyet", der damalige Finanzminister Berat Albayrak, ein Schwiegersohn des Präsidenten Recep Tayyip Erdogan, habe dort Grundstücke gekauft, wo in Zukunft ein Kanal das Schwarze Meer mit dem Marmarameer verbinden soll. Albayrak beantragte am Istanbuler Gericht eine Nachrichtensperre, die die von Erdogan regelmäßig als unabhängig bezeichnete Justiz im Handumdrehen verhängte.

Zwölf Menschen, darunter elf Deutsche, starben 2016 bei dem Anschlag in Istanbul. Bild: dpa
Immer mehr Fälle seit dem Putschversuch 2016
In den vergangenen zehn Jahren haben türkische Gerichte mehr als 600 Nachrichtensperren angeordnet. Insbesondere nach dem Putschversuch im Jahre 2016 nahm die Zahl deutlich zu. Nach einem Entscheid wird die Regulierungsbehörde für den privaten Rundfunk informiert. Diese gibt die Maßnahme bekannt.
Insbesondere regierungskritische türkische Medien ließen es sich in der Vergangenheit jedoch nicht nehmen, die Öffentlichkeit zumindest über den Erlass einer Nachrichtensperre zu informieren. So verschwand eine Nachricht nicht einfach aus dem Programm, sondern interessierte Bürger des Landes konnten sich zumindest einen Reim machen, warum plötzlich über ein Ereignis nichts mehr zu lesen, zu sehen und zu hören war.

Was in der Türkei berichtet wird und was nicht, legen immer häufiger Gerichte fest Bild: picture alliance / dpa
Eine Nachrichtensperre über die Nachrichtensperre
Jüngst setzte der Staat der Praxis die Krone auf: Im Dezember hatte die von der größten türkischen Oppositionspartei CHP kontrollierte Verwaltung der Metropole Istanbul der Staatsanwaltschaft Dokumente übergeben. Diese sollen belegen, dass es in der Vergangenheit zu Korruption in der Verwaltung gekommen war, als Erdogans Partei AKP in Istanbul noch an der Macht war.
Mehr als 200 Internetportale veröffentlichten die Nachricht. Am darauffolgenden Tag wurde eine Nachrichtensperre erlassen. Mehrere Wochen konnten die Menschen in der Türkei im Internet zumindest Berichte über die Sperre finden. Doch selbst das war der AKP offenbar ein Dorn im Auge: So erließ ein Gericht eine weitere Nachrichtensperre über die Berichterstattung über die Nachrichtensperre. Am 12. Januar löschten mehr als 50 Portale entsprechende Meldungen.

Ein Bild und seine Folgen: 2015 postete die Journalistin Alphan ein Bild, auf dem auch PKK-Fahnen zu sehen waren. Dafür muss sie sich nun verantworten. Bild: privat
Gezielte Anklagen gegen einzelne Journalisten
Neben den Sperren setzt der türkische Staat auch weiterhin auf den gezielten Angriff gegen einzelne regierungskritische Journalisten. Der Fall Melis Alphan zeigt, dass auch dabei der Absurdität des Vorgehens kaum noch Grenzen gesetzt sind: Die Journalistin hatte 2015 auf ihrem Instagram-Account ein Foto von den Feierlichkeiten zum persisch-kurdischen Neujahrsfest Newroz in der Stadt Diyarbakir gepostet. Sie sagt, sie habe dazu "Happy Newroz" geschrieben. Im Internet seien Hunderte solcher Fotos zu sehen gewesen.
Internationale, aber auch türkische Medien hatten damals umfangreich über die Veranstaltung mit weit mehr als 100.000 Teilnehmern berichtet. Nun, sechs Jahre später, wirft die Staatsanwaltschaft Alphan Terrorunterstützung vor - denn auf dem Foto sind Fahnen der Arbeiterpartei PKK zu sehen. Sie ist in der Türkei als Terrororganisation eingestuft. Auch alle anderen auf der Veranstaltung vertretenen Medien dürften Bilder dieser Fahnen verbreitet haben. Üblicherweise sorgen Hunderte Polizisten für die Sicherheit, gegen die Fahnen ging damals jedoch kein Ordnungshüter vor.

Steht im April vor Gericht: die Journalistin Alphan Bild: privat
Ein Verdacht kommt auf
Auf die Frage, warum die Staatsanwaltschaft jetzt ausgerechnet sie ins Visier nimmt, hat Alphan eine Antwort: Sie schreibe und berichte auf ihren Social-Media-Kanälen vor allem über Gewalt gegen Frauen und Kinder und Umweltverschmutzung. Das passe der Führung des Landes ganz und gar nicht.
Offensichtlich, so Alphan, wolle man sie kriminalisieren und einschüchtern, und um ihr eine Straftat vorwerfen zu können, habe man das sechs Jahre alte Foto gesucht und gefunden. Alphan will sich jedoch nicht einschüchtern lassen. In einem Land, in dem Presse und Journalisten schweigen, könne niemand mehr offen sprechen, sagt die 43-Jährige. Sie wolle genauso weiterarbeiten wie bisher. Am 15. April muss Alphan vor Gericht. Ihr drohen bis zu siebeneinhalb Jahre Haft.