Ein Rettungsteam der humanitären Organisation Ärzte ohne Grenzen (MSF) nähert sich im Mittelmeer einem Schlauchboot mit 74 Migranten an Bord.

EU und Migration Viele Aktionspläne, kaum Einigkeit

Stand: 28.12.2022 08:35 Uhr

Laut der Grenzschutzagentur Frontex ist die Zahl der Menschen, die versuchen in die EU zu gelangen, im abgelaufenen Jahr stark angestiegen. Viele europäische Politiker fürchten eine neue Migrationskrise.

Russlands Krieg gegen die Ukraine zeigt eine völlig neue Seite der EU. Nur wenige Tage nach dem 24. Februar einigten sich die 27 Mitgliedsstaaten, die so genannte Massenzustrom-Richtlinie zu aktivieren, um Vertriebenen unbürokratisch einen Schutzstatus, medizinische Versorgung sowie Wohn- und Arbeitsmöglichkeiten bereitzustellen.

"Etwas, worauf man stolz sein kann"

Millionen Geflüchtete aus der Ukraine machten davon Gebrauch, sagte EU-Innenkommissarin Ylva Johansson im Oktober. "4,3 Millionen Menschen haben auf Grundlage dieser EU-Richtlinie in der EU Schutz gefunden", so Johansson. "670.000 ukrainische Kinder besuchen die Schulen in den EU-Mitgliedsstaaten. Das ist etwas, worauf man stolz sein kann."

Tatsächlich stellt sich die Situation heute völlig anders dar als 2015, als 1,5 Millionen syrische Kriegsflüchtlinge nach Europa kamen. Nicht nur der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell kritisiert, dass es in der europäischen Migrationspolitik doppelte Standards gebe und "Schutzsuchende, die blond, blauäugig und Christen sind, anders als Moslems oder Afrikaner behandelt werden."

2022 versuchten wieder deutlich mehr Menschen aus Afrika und anderen Weltregionen in die EU zu kommen. Piotr Switalski, Sprecher der europäischen Grenzschutzagentur Frontex, erklärt, dass "in den ersten elf Monaten dieses Jahres an den Außengrenzen der Europäischen Union mehr als 308.000 irreguläre Einreisen festgestellt wurden. Dies entspricht einem Anstieg von fast 70 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum und ist der höchste Wert seit 2016".

Geschlossenheit der EU auf dem Prüfstand

Die meisten Menschen kämen nach wie vor über das östliche und zentrale Mittelmeer und vor allem über die Westbalkanroute. Registriert werde dabei kaum jemand, klagte wiederum Österreichs Bundeskanzler Karl Nehammer und spricht von einer Art "Asyltourismus". Um hier gegenzusteuern, bildete Österreich bereits eine Allianz mit Ungarn.

Gemeinsam stellten die beiden Länder Serbien finanzielle Anreize in Aussicht, damit illegale Migranten direkt aus Serbien zurückgeführt werden und das Land mit mehr Personal und besserer Technik seine südliche Grenze zu Nordmazedonien abriegelt.

Weil viele Migranten auch über Bulgarien und Rumänien nach Österreich kommen, boykottierte Wien im Dezember gemeinsam mit den Niederlanden auch die Aufnahme beider Länder in den Schengenraum. Es ist nur ein Beispiel dafür, dass die Migrationspolitik die Geschlossenheit der EU immer wieder auf die Probe stellt. 

Mehr gemeinsame Verantwortung gefordert

Angesichts der rasant steigenden Zahl von Geflüchteten und immer neuer Fluchtrouten fühlen sich die Länder an den EU-Außengrenzen allein gelassen. Vor allem die fünf Mittelmeer-Anrainerstaaten Italien, Zypern, Malta, Griechenland und Spanien fordern, dass Brüssel die irreguläre Migration endlich als gemeinsame Verantwortung aller 27 Mitgliedsstaaten sieht. Andere EU-Staaten sollten ihnen mehr Migranten abnehmen, als die derzeit versprochenen 10.000 Menschen im kommenden Jahr, auf die sich die EU-Innenminister im Frühjahr geeinigt hatten.

Währenddessen versucht die EU-Kommission mit immer neuen Aktionsplänen, die Situation in den Griff zu bekommen. Man will eine bessere Zusammenarbeit mit den Herkunftsländern, eine gerechtere Lastenverteilung zwischen den Mitgliedsstaaten, effektivere Grenzschutzmaßnahmen und neue Regelungen für die Seenotrettung.

"Wir können eine Menge Aktionspläne machen", erklärt EU-Innenkommissarin Johansson. "Die sind auch wichtig. Aber ohne die Umsetzung des gesamten Migrations- und Asylpakets werden wir das Problem nicht lösen." Es brauche einen generellen Rahmen für die Migrations- und Asylpolitik der EU.

Migrationsdruck bleibt 2023 hoch

Möglicherweise wird durch eine im November geschlossene Vereinbarung zwischen Frankreich und Großbritannien die illegale Migration über den Ärmelkanal zurückgehen. Auch auf der Westbalkanroute könnten die Zahlen sinken, da inzwischen weniger Menschen über die Türkei nach Griechenland kämen und weil der Weg über Serbien in die EU schwieriger werde, erklärt Frontex-Sprecher Switalski.

"Ende November hat Serbien seine Visaregelung eingeschränkt, was die Zahl von illegalen Grenzübertritten in den kommenden Monaten voraussichtlich verringern wird", so Switalski. Aufgrund geopolitischer Entwicklungen, aber auch aus Gründen des Klimawandels sei auch 2023 mit einem hohen Migrationsdruck zu rechnen. 

Das Thema Migration und Asyl wird auch im kommenden Jahr zu den größten Herausforderungen gehören, denen sich die Europäische Union stellen muss. Bereits am 9. und 10. Februar wollen die Staats- und Regierungschefs der EU deshalb bei einem Sondergipfel das weitere Vorgehen beraten, um die illegale Migration einzuschränken.