Interview

Italiens Protestpolitiker Grillo "Das Wort 'Regieren' beunruhigt mich"

Stand: 15.03.2013 01:11 Uhr

Heute ist das neu gewählte Parlament in Italien erstmals zusammengekommen. Mit dabei: 162 Abgeordnete der Fünf-Sterne-Bewegung des Überraschungswahlsiegers Beppe Grillo. Im Interview mit ARD-Korrespondent Bernhard Wabnitz spricht der frühere Komiker über Parteienverdrossenheit, Clowns, den Euro und Regierungsverantwortung.

Bernhard Wabnitz: Sie haben mit ihrer Protestbewegung aus dem Stand 25 Prozent der Wählerstimmen bekommen. Können Sie sich das erklären?

Beppe Grillo: Italien ist wirtschaftlich und moralisch ein Trümmerhaufen. Die Bürger haben den politischen Parteien den Rücken gekehrt. Denn die Parteien haben unser Land zerstört und ausgesaugt.

Wabnitz: Woran liegt die Parteienverdrossenheit in Italien?

Grillo: Das Organigramm der Parteien ist völlig falsch. Es geht an den Leuten vorbei. Die Parteien setzen sich aus einem aufgeblähten Apparat zusammen - und das aus reinem Selbstzweck. Ausschuss, Superausschuss, Ausschreibung, Stimmenkauf - Rechte und Linke agieren seit Jahren nach diesem Muster und haben damit das Land zerrüttet. Italien steht still mit einer Staatsverschuldung von mehr als 2000 Milliarden Euro und horrenden Zinszahlungen pro Jahr.

Wir leben diesen europäischen Traum. Doch dieser Traum löst sich auf, denn die Wirtschaft läuft nicht mehr. Es bringt nichts, über Wachstum zu reden, wenn wir unser Tafelsilber verkaufen müssen, nur um die von der Politik verursachte Staatsverschuldung zu begleichen.

Zur Person

Beppe Grillo schimpft seit Jahren auf die Politik und die etablierten Parteien in Italien. Damit trifft der Kabarettist einen Nerv bei den politikmüden Italienern. Gleichzeitig brachte ihm das den Ruf eines Populisten ein. Mit seiner Protestbewegung "Movimento 5 Stelle" (Bewegung fünf Sterne), die er 2009 gründete, mischte Grillo den Wahlkampf in Italien auf und schaffte einen beachtlichen Erfolg. Die Bewegung ist am ehesten mit der deutschen Piratenpartei zu vergleichen.

Wabnitz: Und Ihre Bewegung ist anders? Sie geben den Unzufriedenen eine Plattform?

Grillo: Meine Bewegung ist im Internet entstanden, sozusagen von unten - gemeinsam mit Bürgern, die mitmachen und zum Staat werden. Das ist, als ob man eine Pyramide umdreht. Unsere 162 Abgeordneten, die erstmals ins Parlament einziehen werden, sind ganz normale Bürger. Sie alle wollen Kultur und Gesellschaft verändern. Es handelt sich um einen kulturellen und gesellschaftlichen Umsturz, nicht um einen politischen.

Wabnitz: Ein Umsturz über das Internet? Das müssen Sie erklären.

Grillo: Unsere Bewegung in Italien lebt durch die Erfindung des Blogs. Du schlägst etwas vor und legst ein Forum zur Diskussion an. In diesen Foren sind Projekte für Wirtschaft oder Energie entstanden.

Die etablierten Parteien verstehen bis heute nicht, was gerade passiert. Sie reden über Bündnisse, über Kompromisse. Aber das alles existiert immer weniger. Die Bürger gehen ins Netz, tauschen sich aus, informieren sich...

Wabnitz: Was wollen Sie konkret ändern im Parlament?

Grillo: Vorbestrafte müssen raus aus dem Parlament. Wir wollen solche Leute nicht mehr. Außerdem: Nach zwei Legislaturperioden muss Schluss sein. Keiner darf mehr 30 oder 40 Jahre lang im Parlament bleiben. Nächster Punkt: Ja zur Direktwahl. Ich will denjenigen wählen, der mich im Parlament vertritt.

Unsere Leute im Parlament bleiben maximal zwei Legislaturperioden im Amt und kehren danach wieder in ihr normales Leben als Rentner, Zeitarbeiter, Bauer, Mutter, Ingenieur oder Anwalt zurück. Außerdem werden sie ein Gehalt beziehen, das dem europäischen Durchschnitt entspricht. Weg mit Dienstwagen, Leibrente, Abfindungszahlung. Weg mit den ganzen Privilegien.

Und dann muss man sofort Geld zur Schaffung eines Grundeinkommens für einkommensschwache Bevölkerungsgruppen bereitstellen. Dann müssen wir einen Plan vergleichbar mit der "Agenda 2010" in Deutschland bekommen. Was sich in Deutschland bewährt hat, wollen wir auch.

Wabnitz: Um Gesellschaft und Politikerklasse zu verändern, muss man aber auch Regierungsverantwortung übernehmen. Warum weigern Sie sich?

Grillo: Wir haben 25 Prozent geholt, aber wir haben nicht gewonnen. Wir werden ins Parlament einziehen. Aber ich kann keinen Konsens mit der Partei von Bersani oder Berlusconi erzielen. Außerdem: Das Wort "Regieren" beunruhigt mich. Regiert werden - von was oder wem? Ich ziehe es vor, von Ideen und nicht von Menschen geleitet zu werden. Wir wollen direkt auf die Bedürfnisse der Menschen eingehen - so wird unsere Regierungsbeteiligung aussehen. Ob eine Autobahn oder ein Fahrradweg gebaut werden soll, entscheiden die Bürger. Wir betrachten uns als Amtsträger, die dank der Bürger im Parlament sitzen.

Wabnitz: Lassen Sie uns über den Euro sprechen. Sie fordern den Austritt Italiens aus der Eurozone...

Grillo: Mir werden oft Äußerungen über den Euro in den Mund gelegt, die ich so nicht gemacht habe. Die Tragödie Italiens ist nicht der Euro, sondern die Staatsverschuldung, die von Jahr zu Jahr steigt. Mario Monti hat die Staatsverschuldung in die Höhe getrieben. Monti war der Insolvenzverwalter, denn im vergangenen Jahr sind wir in Konkurs gegangen. Wenn wir auf der Strecke bleiben, reißen wir auch Europa mit. Die Aufgabe Montis war, den Konkurs geordnet zu leiten, den deutschen und französischen Banken über die Europäische Zentralbank ihr Geld zu geben und unsere Staatsanleihen zurückzukaufen. Haben die Banken erst ihre Kredite zurück, können wir getrost in Bankrott gehen - wie Spanien, Portugal und Irland. Die aufstrebenden Märkte sind jetzt in Brasilien, Russland oder der Türkei.

Wir dürfen uns nicht länger von der Staatsverschuldung versklaven lassen. Wir sind mit einer gemeinsamen Währung in absolut unterschiedliche Märkte eingetreten, vielleicht liegt hier der Hund begraben. Jetzt brauchen wir einen Plan B für den Euro, der eine Kosten- und Leistungsrechnung für die nächsten fünf Jahre aufstellt. Wir informieren und diskutieren darüber. Dann gibt es einen Volksentscheid, bei dem die Bürger für oder gegen einen Euro-Austritt stimmen. Es geht nicht um Grillo, Bersani oder Berlusconi. Das italienische Volk entscheidet. Das ist Demokratie.

Wabnitz: Ein Austritt aus Europa ist nicht denkbar. Welche Pläne haben Sie für Europa?

Grillo: Zuerst wollen wir die Kommunikation verbessern. Wir wissen nichts übereinander. Warum muss jedes Gesetz in elf Sprachen übersetzt werden? Warum gibt es 20 Kommissionen mit mehr als 25.000 Angestellten? Warum kriege ich keine italienischen Orangen mehr, sondern muss mir Orangen aus Spanien oder Tunesien auspressen?

Ich will einen Alternativplan. Ich bin kein Protestler. Wir sind demokratische Konservative. Wir wollen freies, volkseigenes Wasser, ein staatliches Gesundheitssystem, den Sozialstaat.

Wabnitz: Sie sind Berufskomiker. SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück bezeichnete Sie und Berlusconi jüngst als "Clowns", über deren Wahlsieg er entsetzt sei.

Grillo: Ich bin ein Clown, aber im positiven Sinn des Wortes. Denn ein Clown hinterlässt einen positiven Eindruck.

Das Interview führte Bernhard Wabnitz, BR