Ein Mann schwenkt eine ukrainische Flagge auf einer Statue in Cherson (Screenshot) | Reuters

Nach dem Abzug russischer Truppen Die Ukraine kontrolliert wieder Cherson

Stand: 11.11.2022 17:49 Uhr

Die Ukraine kann einen weiteren wichtigen Erfolg verbuchen: Die eigene Armee kontrolliert wieder die strategisch wichtige Stadt Cherson im Süden des Landes. In der Stadt brach Jubel über den Rückzug der Russen aus.

Die ukrainische Armee hat bei ihrer Gegenoffensive im Südosten des Landes einen bedeutenden Sieg errungen: Neun Monate nach Kriegsbeginn räumte die russische Armee Cherson und überließ damit die strategisch wichtige Stadt den ukrainischen Streitkräften. "Cherson kehrt unter die Kontrolle der Ukraine zurück", erklärte das Verteidigungsministerium in Kiew.

Es rief verbliebene russische Soldaten dazu auf, "sich augenblicklich zu ergeben". Die Rückzugsrouten der "russischen Invasoren" seien unter Feuer der ukrainischen Armee, erklärte Kiew weiter. "Jeder russische Soldat, der Widerstand leistet, wird eliminiert." Wer sich ergebe, werde jedoch am Leben gelassen, erklärte das Ministerium weiter.

Der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba nannte den russischen Rückzug einen "weiteren wichtigen Sieg" für die Ukraine. Kuleba schrieb in Online-Diensten: "Was auch immer Russland sagt oder tut - die Ukraine wird gewinnen".

Videos in sozialen Netzwerken zeigen Freude der Bewohner

In sozialen Netzwerken veröffentlichte Fotos und Videos zeigten Bewohner von Cherson, die ukrainische Flaggen schwenkten. Die ersten ukrainischen Soldaten wurden mit Umarmungen und Beifall begrüßt. Die Menschen riefen dazu: "WCU! WCU!". Das ist die Abkürzung für die Streitkräfte des Landes. Einige Menschen weinten offenbar vor Freude. Auf dem Gebäude der örtlichen Gebietsverwaltung wehte wieder die blau-gelbe Fahne der Ukraine. Örtlichen Berichten zufolge waren die ukrainischen Einheiten auch in die Kleinstadt Beryslaw unweit des Kachowka-Staudamms eingerückt.

Russische Angriffstruppen hatten weite Teile der Region Cherson und der gleichnamigen Regionalhauptstadt kurz nach Beginn der Invasion in die Ukraine Ende Februar besetzt. Für die Regierung in Moskau ist die Region strategisch von hoher Bedeutung, um die Offensive in Richtung Mykolajiw und zum Schwarzmeerhafen Odessa fortsetzen zu können. 

Darüber hinaus liegt in der Region Cherson der Kachowka-Staudamm, der die von Russland annektierte Halbinsel Krim mit Wasser versorgt. Angesichts der Fortschritte der ukrainischen Gegenoffensive hatte die russische Armee am Mittwoch dann aber ihren Rückzug aus dem Norden der Region Cherson und deren gleichnamiger Hauptstadt angeordnet.

Angeblich 30.000 Soldaten nun auf linker Flussseite

Vor dem heutigen Einzug der ukrainischen Truppen erklärte Moskau den Rückzug vom rechten Ufer des Flusses Dnipro offiziell für abgeschlossen. Insgesamt wurden demnach mehr als 30.000 Soldaten auf die linke Flussseite gebracht. Dem Schritt waren Gebietsgewinne der ukrainischen Streitkräfte in der Region vorausgegangen.

Der ukrainische General Walerij Saluschny hatte am Donnerstag erklärt, die eigenen Truppen hätten nach Kämpfen an der Front zwischen Petropawliwka und Noworaisk sechs Siedlungen zurückerobert. Sechs weitere Ortschaften wurden nach seinen Worten zwischen dem Ort Perwomaiske und Cherson eingenommen. Insgesamt habe die Ukraine damit mehr als 200 Quadratkilometer Gebiet zurückerobert.

Dunkelgrün: Vormarsch der russischen Armee. Schraffiert: von Russland annektierte Gebiete.  | ISW/10.11.2022

Dunkelgrün: Vormarsch der russischen Armee. Schraffiert: Von Russland annektierte Gebiete. Bild: ISW/10.11.2022

Moskau sieht dennoch kein Ende seiner "Spezialoperation", wie der Angriffskrieg von Russland selbst bezeichnet wird. Der Kreml schließt nach eigenen Angaben Verhandlungen mit der Ukraine zwar nicht aus. Man sehe aber keine Bereitschaft Kiews für Gespräche, sagte Sprecher Dmitri Peskow nach Angaben russischer Nachrichtenagenturen. "Kiew will keine Gespräche, also geht die militärische Spezialoperation weiter", sagte Peskow.

Aus Sicht des Kremls könnte die "militärische Spezialoperation" entweder mit dem Erreichen ihrer Ziele oder mit Verhandlungen beendet werden. Friedensgespräche "aus der Position der Stärke" heraus, wie sie die ukrainische Seite beanspruche, seien aber nicht möglich. Ungeachtet des eigenen Abzugs bezeichnete Moskau das Gebiet Cherson, das der Kreml erst im September völkerrechtswidrig annektiert hatte, weiter als eigenes Staatsgebiet.

Konfliktparteien als Quelle

Angaben zu Kriegsverlauf, Beschuss und Opfern durch offizielle Stellen der russischen und der ukrainischen Konfliktparteien können in der aktuellen Lage nicht unmittelbar von unabhängiger Stelle überprüft werden.

Erneut russische Angriffe auf die Region

Kurz nach dem Abzug der eigenen Truppen aus Cherson und weiteren Orten begann Russland eigenen Angaben zufolge erneut mit Angriffen auf die gerade erst aufgegebene Region. "Aktuell werden Truppen und Militärtechnik der ukrainischen Streitkräfte auf dem rechten Ufer des Flusses Dnipro beschossen", teilte Russlands Verteidigungsministerium mit.

Auch in anderen Regionen der umkämpften Ukraine gab es Beschuss. Bei einem Raketenangriff auf ein Wohnhaus in der Stadt Mykolajiw gab es der Regierung in Kiew zufolge Tote und Verletzte. Der ukrainische Gouverneur des Gebietes, Witalij Kim, teilte im Nachrichtenkanal Telegram mit, es seien sechs Tote aus den Trümmern eines fünfgeschossigen Wohnhauses geborgen worden.

Moskau und Kiew tauschten unterdessen erneut Gefangene aus. "Es ist gelungen, 45 Kämpfer der Streitkräfte zu befreien", erklärte der Chef des ukrainischen Präsidentenbüros in Kiew, Andrij Jermak, im Nachrichtendienst Telegram. Es handele sich dabei um Soldaten und Feldwebel. Wie viele Soldaten an die russische Seite übergeben wurden, wurde zunächst nicht mitgeteilt.

Über dieses Thema berichtete tagesschau24 am 11. November 2022 um 18:00 Uhr.