Petrus-und-Paulus-Kirche in Lwiw
Reportage

Krieg in der Ukraine Tarnnetze und Kinderbilder

Stand: 14.03.2022 05:02 Uhr

Die russischen Angriffe treffen zunehmend den Westen der Ukraine. Doch auch hier wollen die Menschen sich nicht ergeben. In Lwiw wächst der Kampfgeist.

Gestern schlugen erstmals während des Ukraine-Krieges in unmittelbarer Nähe der Stadt Lwiw Raketen ein. Sie trafen offenbar den Truppenübungsplatz Jaworiw in der Westukraine, 30 Kilometer nordwestlich der Stadt. Auf dem Gelände befindet sich eine Militärakademie sowie das internationale Ausbildungszentrum für Einsätze zur Friedenssicherung. Die Vorbereitungen darauf, dass der Krieg im größeren Maße nun auch in die West-Ukraine kommt, laufen.

Luftalarm fordert die Passanten in der Innenstadt von Lwiw erneut dazu auf, Schutzräume aufzusuchen. Möglicherweise drohen wieder russische Raketeneinschläge. Die durchdringende Stimme, untermalt von einer penetranten Sirene, mischt sich in die Außenübertragung des Gottesdienstes.

In der Kirche liegen unter einem Marienbild Überreste aus den beiden Weltkriegen: Raketen-Schrapnells, Helme, eine zerschossene Wasserflasche aus Aluminium. Derzeit steht allerdings jeder Gottesdienst in der Petrus-und-Paulus-Kirche von Lwiw im Zeichen des laufenden Ukraine-Krieges: An einer Tafel hängen Fotos Gefallener, die aus dieser Stadt im Westen der Ukraine stammten. Erinnerungen an Kriegsschrecken.

Von der Beichte an die Front

Die Besucherinnen und Besucher preisen Gott und die Ukraine. Auch Viktor singt. Nach dem Gottesdienst zündet der 29-Jährige mit dem blonden Bürstenhaarschnitt eine Kerze an. Er hat vor ein paar Tagen seinen Einberufungsbefehl von der ukrainischen Armee erhalten. Viktor hat Angst vor dem Krieg; zu sterben oder verwundet zu werden. Und jetzt, nach dem Bombardement nahe Lwiw noch mehr.

Jeder habe Angst, sagt er. Bevor er an die Front geht, wollte Viktor beichten, um vorbereitet zu sein, falls er vor seinen Schöpfer treten müsse. Aber er glaube an einen Sieg über die russischen Angreifer; es sei nur eine Frage der Zeit, der Verluste und der Zerstörung.

Auf einer belebten Straße in der Innenstadt von Lwiw: Lubov trägt Lippenstift, blaue Lidschatten und Uniform. Die 35-Jährige hat eine klare Vorstellung von Krieg. Sie habe schon Schlachten erlebt. Sie seien angsteinflößend gewesen. Sie habe in Donezk Gefechte mitgemacht, gegen pro-russische Separatisten, die für eine Abspaltung von der Ukraine und eine eigenständige Volksrepublik kämpften.

Als ihre Einheit angegriffen wurde, habe sie zurückgeschossen. Ja, das sei Selbstverteidigung gewesen, aber trotzdem: Es waren Menschen, auf die sie feuerte. Und dann ihre Angst, wenn Granaten explodierten.

Die Heimat geht vor

Theoretisch, so Lubov weiter, könnte sie als eine von mehreren zehntausend Soldatinnen ihren Dienst beim ukrainischen Militär quittieren. Sie habe kleine Kinder. Aber die Uniform jetzt an den Nagel zu hängen, das wäre für sie schändlich; die Heimat gehe vor. Da Lubovs Mann auch bei den Streitkräften sei, kümmerten sich jetzt die Großeltern um die Kinder.

Die Regale an den Wänden: Voller Bücher. Werke ukrainischer Schriftsteller neben britischen, französischen, amerikanischen, deutschen. Aber zum Lesen kommt hier niemand her: In der Leihbücherei in Lwiw werden heute Tarnnetze hergestellt. In einem Raum knüpfen Freiwillige sie, in den anderen knoten sie Stoffstreifen in die Maschen - in unterschiedlichen Grüntönen.

Auch Galina, eine Mittfünfzigerin, deren schwarze Haare grau durchsträhnt sind. Als die russischen Panzer einrollten, habe sie Kiew verlassen und sei nach Lwiw gekommen. Galinas Mann habe bleiben müssen, weil er einen wichtigen Job habe. Sie habe sich dann einige Tage lang die Sehenswürdigkeiten von Lwiw angesehen, aber dann etwas Sinnvolles machen wollen.

Kleine Kunstwerke für Soldaten

Und so sei sie, sagt Galina, dazu gekommen, mit den anderen 120 Freiwilligen in der Bibliothek Tarnnetze herzustellen. Nur in einem Zimmer der Bücherei ist die Camouflage Nebensache: Hier zeichnen Kinder. Ein Fluss, Häuser, Sonnenuntergang - das bringt die zwölfjährige Valentina zu Papier.

Sie zeichne ihre Stadt, erzählt Valentina, Kharkiv. Von dort sei sie mit ihren Eltern geflohen. Wegen des Krieges. Sie vermisse ihre Stadt, darum zeichne sie sie.

Sie und die anderen Kinder, erzählt Valentina weiter, zeichneten die Bilder für Soldaten an der Front. Die bekämen die kleinen Kunstwerke zusammen mit den neuen Tarnnetzen; als Dankeschön dafür, dass sie für Sicherheit sorgten.

In der Ukraine sind praktisch keine Stimmen zu hören, die von der Regierung in Kiew verlangen würden, aufzugeben. Die Haltung ist klar: Bei aller Angst kämpfen die Menschen in der Ukraine für ihr Land. Entweder mit der Waffe - oder indem sie die Streitkräfte unterstützen. Irgendwie.

Björn Blaschke, Björn Blaschke, ARD Kairo, zzt. Lwiw, 14.03.2022 05:35 Uhr

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Inforadio am 14. März 2022 um 08:26 Uhr.