Ein Checkpoint in der der Nähe von Tiraspol

Transnistrien Die Republik, die es nicht gibt

Stand: 26.05.2022 08:13 Uhr

Die von Moldau abtrünnige Region Transnistrien hängt von Russland und seinen hier stationierten Soldaten ab. Transnistrien pflegt die Erinnerung an die Sowjetzeit, doch der Krieg in der benachbarten Ukraine sorgt für Nervosität.

Von Kristin Becker, ARD Berlin

Harry Potter ist möglicherweise sein größter Konkurrent, aber Lenin lässt sich nicht aus der Ruhe bringen. Seit Jahrzehnten harrt er aus in Tiraspol in verschiedensten steinernen Inkarnationen. Dass seit vergangenem Jahr auch der westliche Zauberlehrling eine Statue mitten in der Stadt hat, ist eine Skurrilität mehr in einem Land, das nicht existiert.

Die selbsternannte Pridnestrowische Moldauische Republik (PMR) - im westlichen Ausland als Transnistrien bekannt - ist ein international nicht anerkannter Pseudostaat mit eigener Flagge, eigenem Geld, eigener Regierung und eigener Grenzkontrolle. Die schließt in diesen Tagen Journalisten und Journalistinnen von der Einreise aus, lediglich touristisch darf man beispielsweise die "Hauptstadt" Tiraspol besuchen.

Erst kürzlich wurden zwei rumänische Reporter zeitweise festgenommen, die von vor Ort berichten wollten. Überall überwachen Kameras das Geschehen, wer fotografiert wird kritisch beäugt, vor allem wenn nicht nur eine Leninstatue das Motiv ist.

Büste von Lenin.

Lenin-Büsten begegnet man in Tiraspol nicht nur einmal.

Grenzübergang in eine andere Welt

Trotzdem läuft der "Grenzverkehr" zwischen Chisinau, der Hauptstadt der Republik Moldau, zu der Transnistrien völkerrechtlich gehört, und Tiraspol ziemlich unspektakulär. Jeden Tag verkehren Dutzende von Marschrutkas - alte weiße Kleinbusse, die als Sammeltaxis fungieren - auf der Strecke. Ein kurzer Blick der transnistrischen Zöllnerin in den Pass, ein ausgedruckter Einreisezettel und man ist drin - ein bisschen auch in einer anderen Welt.

In Reiseführern wird Transnistrien gern als sowjetisches Freilichtmuseum bezeichnet. Hammer und Sichel zieren die allgegenwärtigen Flaggen. Die Karl-Liebknecht-Straße, die nach Tiraspol hineinführt, große Parks mit Ehrenmälern und bröckelnde Plattenbauten erinnern an Ostblockzeiten. Neubauten des Sheriff-Konzerns um den örtlichen Oligarchen Viktor Gusan, der unter anderem Tankstellen, Supermärkte, Hotels, eine Destillerie und den Fußballverein betreibt, erzählen aber auch vom Reichtum weniger.

Kaviar, Brandy, Textilien werden exportiert, auch nach Deutschland. Sheriff hat ein Monopol auf vieles, was hier produziert oder gehandelt wird und kontrolliert die Politik. Die orientiert sich seit Jahrzehnten an Russland.

Eingang zum Sheriff-Casino in Tiraspol

Ob Glücksspiel oder Fußball - der Sheriff-Konzern prägt den Alltag in Tiraspol.

Reichlich Sowjetnostalgie

Eine Variante der russischen Flagge ist die zweite "Staats"-Fahne der PMR, die über dem Obersten Sowjet, dem Parlamentsgebäude, in Tiraspol weht. Auf einem Häuserblock prangt ein Bild des Kosmonauten Juri Gagarin, der erste Mensch im All und "Held der Sowjetunion". Wer will, kann in einer Kantine inmitten von Devotionalien der Sowjetzeit und Einheimischen Mittag essen, am Straßenrand verkaufen Frauen frischen Kwas, ein säuerliches Brotgetränk. 

Tiraspol und das benachbarte Bender wirken weitläufig, wie aus der Zeit gefallen und auf den ersten Blick auch in diesen Tagen ziemlich entspannt. Aber der Krieg ist nicht weit weg - Tiraspol liegt unmittelbar an der Grenze zur Ukraine, Odessa ist gerade mal 100 Kilometer entfernt.

Die Lage hier ist unübersichtlich bis heikel. Vor Kurzem gab es mehrere Anschläge unter anderem auf Sendemasten und ein Gebäude der hiesigen Staatssicherheit - wer dahinter steckt ist unklar, vor Ort unterstellt man die Taten der ukrainischen Seite, in Chisinau und Kiew vermutet man pro-russische Provokationen, die die Region destabilisieren sollen.

Die Spannungen wachsen

Dass die Spannungen gestiegen sind, zeigen Straßensperren und Gebäudesicherungen mit Betonblocks an den Hauptverkehrsachsen in Transnistrien, bewacht von Polizei und Militär, zum Teil sind auch russische Soldaten dabei. Von denen sind um die 1500 hier stationiert, Überbleibsel des Kriegs von 1992 zwischen transnistrischen Separatisten und der Republik Moldau.

Als sich Anfang der 1990er-Jahre die Sowjetunion auflöste und mit ihr auch die Sozialistische Sowjetrepublik Moldawien, begann der Konflikt zwischen russischsprachigen Bevölkerungsgruppen im Osten des Landes, die am sowjetischen Konzept und am Russlandbezug festhalten wollten, und aufstrebenden Kräften in Moldau, die sich gen Westen und EU orientierten und Rumänisch als einzige Amtssprache durchsetzten. 

Prägende Erinnerung

Die blutige Auseinandersetzung ist im kollektiven Gedächtnis und in den Einschusslöchern im Rathaus von Bender, wo die Frontlinie verlief, immer noch sehr präsent. Und sie bestimmt auch die Sicht auf das, was aktuell in der Ukraine passiert.

Krieg sei nie gut und die Ukraine ein Rückzugsgebiet für Geflüchtete gewesen, als damals in Transnistrien gekämpft wurde, sagt ein junger Mann in Tiraspol. Das habe man nicht vergessen. "Wir sagen hier, dass in der Ukraine Krieg ist. Das ist nicht verboten", betont er in Anspielung darauf, dass man die Bezeichnung Krieg in Russland selbst aktuell nicht benutzen darf.

Doch das Narrativ, dass die Ukraine Russland provoziert habe, ist ebenso Teil der Wahrnehmung. Außerdem wisse ja keiner genau, was dort wirklich passiere. Das transnistrische De-facto-Regime selbst ist bislang zurückhaltend mit offiziellen Unterstützungsbekundungen für den russischen Krieg - rund ein Viertel der Einwohner hat ukrainische Wurzeln, wirtschaftlich ist man eng verbunden, Ukrainisch ist eine der "offiziellen" Sprachen, auch wenn Russisch dominiert.  

Das Rathaus von Bender (Transnistrien).

Die Einschusslöcher aus der Zeit der Kämpfe in Transnistrien sind noch heute am Rathaus von Bender zu sehen.

Wovon der "Sowjetmensch" träumte

In der Stadtbibliothek versuchen sie mit einfachen Mitteln zu erhalten, was da ist. Das abgenutzte Parkett und die Wandmosaike stammen aus der realsozialistischen Vergangenheit. Melancholie durchzieht das Treppenhaus. Im Lesesaal kann man in Bildbänden aus den 1980er-Jahren blättern, die zeigen sollen, wie gut das Leben in Tiraspol in der Sowjetzeit war.

Der Utopie des "homo sovieticus" inklusive sicherer Arbeit, Schwarzmeerurlauben und Gemeinschaftsgefühl hängen viele hier nach. Gegen die Angst, dass der Krieg überschwappen könnte, hilft das aber nur begrenzt.

"Die Ukrainer haben wenigstens eine Nationalität. Wenn wir fliehen müssen, sind wir niemand," sagt eine der Bibliothekarinnen. Nicht mal Russland erkennt die PMR an, auch wenn es sich als Schutzmacht geriert. 

Sowjet-Nostalgie-Kantine in Tiraspol

Wer sich nach der Atmosphäre der Sowjetzeit zurücksehnt, kommt in dieser Kantine in Bender auf seine Kosten.

Weitet sich der Krieg aus?

In Chisinau schaut man angespannt in Richtung Tiraspol, aber Mihai Mogildea sieht auch Chancen - wenn die Ukraine gewinnt. Der Politikwissenschaftler arbeitet für das Institut für Europäische Politik und Reform, eine moldauischen Denkfabrik. Er hält es für möglich, dass es der Ukraine gelingt, zumindest den Status quo ihrer Gebiete von Anfang 2022 wiederherzustellen und die Russen zurückzudrängen. Aus seiner Sicht würde das die Position der Ukraine in der Region stärken und könnte helfen, Russland unter Druck zu setzen, endlich seine Soldaten aus Transnistrien abzuziehen.

Die moldauische Regierung und viele Menschen im Kernland nehmen diese als permanente Bedrohung wahr. Es könnte also eine Lösung des eingefrorenen Konflikts näher rücken, hofft Mogildea. Sollte Russland allerdings die Gebiete um Odessa einnehmen, befürchtet der Analyst das Schlimmste - weil dann eine Landverbindung zu den russischen Truppen in Transnistrien möglich wäre und der Krieg sich auch auf Moldau ausweiten könnte.

In Tiraspol sehen sie die russischen Truppen in einem anderen Licht. Die Kasernen und Verwaltungsgebäude des Militärs gehören wie selbstverständlich zum Stadtbild. Aus Sicht der Transnistrier hat die russische Armee 1992 für Frieden gesorgt. Außerdem sind auch Einheimische Teil der Truppe - viele hier haben einen russischen Pass, weil mit dem transnistrischen Dokument keiner ins Ausland reisen kann.

Sowjet-Panzer in Bender (Transnistrien)

Der Panzer soll an Soldaten erinnern, die bei den Kämpfen 1992 getötet wurden. Der Gedanke an den Krieg in der Ukraine löst bei den Menschen in Transnistrien Unbehagen aus.

Der Vorteil, einen Pass aus Moldau zu besitzen

Inzwischen besitzen aber auch viele den moldauischen Pass. Nicht aus Verbundenheit, sondern aus Pragmatismus, schließlich kann man damit problemlos in die EU reisen.

Überhaupt ist Moldau für manchen in diesen Tagen etwas attraktiver geworden. Klar habe man immer gehofft, vielleicht ein zweites Kaliningrad zu werden, also eine echte russische Exklave, sagt der junge Mann in Tiraspol. Aber dieses Russland, das so autoritär geworden sei, habe auch durch den Krieg viel an Attraktivität eingebüßt, findet er.

Vielleicht dann doch wieder richtig zu Moldau zu gehören - natürlich mit weitreichenden Sonderrechten, das erscheint ihm in diesen Tagen nicht mehr so abwegig. Eine Mehrheitsmeinung ist das aber nicht unbedingt, gibt der Gesprächspartner zu. In der Generation seiner Eltern dominiere eine Sicht, die hinter Putins Russland steht und mit großen Zweifeln Richtung Europa schaut.  

Karte: Republik Moldau mit Transnistrien

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete das Erste am 27. März 2022 um 12:45 Uhr im "Europamagazin".