Andrii Rudyk

Westliche Technik in Waffen Russische Marschflugkörper mit TÜV-Siegel

Stand: 17.01.2024 18:06 Uhr

Beinahe täglich greift Russland die Ukraine mit Raketen und Drohnen an. Darin findet sich auch Elektronik aus dem Westen. Wie kann das sein - trotz geltender Sanktionen?

Von Tobias Dammers und Mathea Schülke, ARD Kiew

Es sind brisante Funde, die Andrii Rudyk vom ukrainischen Generalstab mitgebracht hat. Seine Einheit analysiert die Überreste russischer Waffen und vor allem deren ausländische Bauteile. Er präsentiert Teile des Bordcomputers eines russischen Marschflugkörpers KH101, der in der Ukraine bereits häufig für Tod und Zerstörung gesorgt hat. Darin befinden sich mehrere kastenförmige, weiße Spannungswandler. "Made in the USA", steht darauf, auch ein TÜV-Logo ist zu sehen. "Dieser Bordcomputer kontrolliert den Flug des Marschflugkörpers", erklärt Rudyk. "Damit wird er zu einer Hochpräzisionswaffe."

Russland, so Rudyk, sei in hohem Maße auf ausländische High-Tech-Komponenten angewiesen, da das Land nicht in der Lage sei, diese selbst herzustellen. Mehr als 70 Prozent der untersuchten Bauteile kommen nach seiner Aussage aus dem Ausland: beispielsweise Mikrochips, Prozessoren, Kameras, Antennen oder moderne Navigationstechnik. "Alles, was mit Hochpräzisionstechnologie zu tun hat, ist vollständig importiert", sagt der Mitarbeiter des ukrainischen Generalstabs.

Umgehung von westlichen Sanktionen bei russischer Waffenproduktion

T. Dammers/M. Schülke, ARD Kiew, tagesthemen, 16.01.2024 22:15 Uhr

Bauteil wurde zu Kriegszeiten hergestellt

Dazu zählt vermutlich auch der Spannungswandler des Bordcomputers. Hergestellt wurde er vom US-Unternehmen Vicor, mit Sitz in Massachusetts. Laut eigener Webseite produziert die Firma Energiemodule und vollständige Stromversorgungssysteme. Zuständig für "Osteuropa" ist der Vicor-Standort in Ismaning bei München.

Nach ARD-Recherchen ist das mutmaßliche Herstellungsdatum laut Seriennummer September 2022 - also gut ein halbes Jahr nach Beginn der russischen Invasion. Zu einer Zeit, als das US-Handelsministerium bereits scharfe Exportbeschränkungen erlassen hatte. Es führt Stromwandler explizit als Güter auf, "die aufgrund ihrer kritischen Rolle bei der Herstellung moderner russischer Präzisionswaffen von höchster Bedeutung sind".

Hersteller antwortet nicht auf Anfrage

Warum ist der Wandler dennoch in einem russischen Marschflugkörper gelandet? Über welche Wege kam er trotz strenger Exportkontrollen dorthin? Und wie kommt ein Siegel des TÜV auf dieses Bauteil? Auf ARD-Anfrage äußert sich das Unternehmen dazu nicht, auch nicht zum mutmaßlichen Herstellungsdatum und Herstellungsort.

Der Russland-Experte bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, András Rácz, erklärt, Russland habe bereits seit Sowjetzeiten Erfahrung mit der Umgehung von Sanktionen gemacht und mutmaßlich schon seit der Krim-Annexion 2014 westliche High-Tech-Bauteile vorsorglich zurückgelegt. Das Land verfüge darüber hinaus über ein "dichtes Geflecht von Netzwerken" und habe schon vor der vollen russischen Invasion in die Ukraine, im Februar 2022, Offshore-, Briefkastenfirmen und anderen Zwischenhändler an den Start gebracht.

Kuleba fordert spürbare Konsequenzen

Der Export sanktionierter Güter, die oft sogenannte Dual-Use-Güter sind, also auch für die zivile Nutzung gedacht, laufe vor allem über Drittländer wie China, die Türkei oder Kasachstan und die Vereinigten Arabischen Emirate, so der Russlandexperte.

Der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba fordert deshalb im Gespräch mit dem ARD-Studio Kiew spürbare Konsequenzen für diese Länder. Zudem müssten private Firmen besser darüber aufgeklärt werden, welchen Schaden ihre nach Russland exportierten Güter in der Ukraine anrichteten. Vor allem aber verlangt er schärfere Exportkontrollen. Denn, so Kuleba: "Bei der Masse der Bauteile, die nach Russland gelangen und bei dem Ausmaß der Angriffe auf die Ukraine sind Exportkontrollen beinahe so etwas wie eine neue Art der Luftverteidigung."

Anmerkung der Autoren: Einen Tag nach der Veröffentlichung dieses Beitrags schreibt das Unternehmen Vicor, dass die Firma seit Beginn des "Konflikts" Lieferungen nach Russland eingestellt habe. An Export-Gesetze halte Vicor sich und verpflichte auch "autorisierte Weiterverkäufer" dazu. Einen Beleg für seine Ausführung liefert Vicor nicht. Auf zuvor gestellte, konkrete Recherchefragen geht Vicor nicht ein und erklärt auch nicht, wie der Spannungswandler in den russischen Marschflugkörper gekommen ist. 

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichteten die tagesthemen am 16. Januar 2024 um 22:15 Uhr.